Der Henker von Paris
ärgern. Denn wie ihre verstorbene Mutter hatte sich Marie-Anne neuestens angewöhnt, stets die gegenteilige Meinung zu vertreten. Sie war streitsüchtig geworden, und kein Anlass war ihr zu nichtig, um nicht tagelang zu streiten oder kein einziges Wort mehr zu sagen. Sie schien nicht darunter zu leiden. Denn sie frass keinen Ärger in sich hinein. Die einst so melancholische Frau brüllte mittlerweile wie ein Bürstenbinder, wenn ihretwas missfiel, zerschlug Geschirr oder schmiss das Essen in den Hof, wenn es ihr nicht passte. Mit Marie-Anne hatten sie einen Vulkan in den eigenen vier Wänden. Sie hätte nie behauptet, dass sie es schlecht habe. Nein, sie hatte keine finanziellen Sorgen, musste nie Hunger leiden, hatte vier Hunde, die sie über alles liebte. Was konnte man im hungernden Paris dieser Tage mehr wollen?
Marie-Anne brauchte keine Menschen. Wenn die Familie zusammen mit den Gehilfen die Mahlzeiten in der grossen Wohnküche einnahmen, sprach sie kaum ein Wort. Manchmal, wenn sie Charles mit stechendem Blick fixierte, hatte er den Eindruck, in die Augen von Grossmutter Dubut zu blicken. Ihn schauderte, aber je mehr sich Charles zurückzog, desto herrischer übernahm Marie-Anne das freigewordene Feld und übte eine Tyrannei aus, die der von Grossmutter Dubut in nichts nachstand. Charles tröstete sich damit, dass eines Tages sein Sohn Henri das Zepter übernehmen würde.
Charles widmete sich wieder vermehrt seiner Pharmacie und seinen Patienten. Seine Gehilfen übernahmen immer mehr Arbeiten im Haus. Das missfiel Marie-Anne. Sie begann wieder zu sprechen. Über Geld. Charles nutzte die Gelegenheit, um die Stimmung zu verbessern und die Beziehung zu normalisieren. Es schien fast so, als habe Marie-Anne die Zeit der Isolation gebraucht, um wieder zu sich zu finden. Die Zeit hatte ihr offensichtlich auch geholfen, zu akzeptieren, dass Gabriels Füsse so waren, wie sie nun mal waren. Sie begann wieder zu kochen und freute sich, wenn Charles, Henri, Gabriel und die Gehilfen das Essen lobten. Wenn Charles jedoch spätabends nach der Arbeitnach Hause kam, ihre Taille umfasste und sie küssen wollte, drehte sie den Kopf zur Seite. Sie sperrte sich gegen jegliche körperliche Nähe. Charles war gekränkt. Er verstand nicht, was mit Marie-Anne geschehen war. Irgendwelche Dämonen hatten sich in ihrer Seele eingenistet, und man wusste nie, welchem Dämon man am nächsten Morgen begegnen würde. Irgendwann beschloss Charles, es zu akzeptieren und in seine eigene Welt zurückzukehren.
Eines Abends fand er sein Kissen und eine Bettdecke auf der Couch in der Pharmacie. Von nun an schliefen sie in getrennten Zimmern. Die Entfremdung schritt voran. Charles vertiefte sich in seine Studien, während Marie-Anne ihren Ordnungssinn perfektionierte und in Rage geriet, wenn jemand diese Ordnung auch nur in Ansätzen durcheinanderbrachte. Da Charles gutmütig war und nicht gern stritt, nickte er alles ab. Seine Gutmütigkeit wurde zu ihrer Stärke. Keiner konnte ihr mehr widersprechen. Sie hatte die Meinungshoheit an sich gerissen.
Charles sah allerdings keinen triftigen Grund, sie zu verlassen, denn er begehrte keine andere Frau, und das Leben in seiner Pharmacie war angenehm, da Marie-Anne diese nie betrat. Sie mied eisern alle Orte, an denen er sich aufhielt. Wollte sie ihm etwas mitteilen, bat sie Desmorets, das Gewünschte auszurichten. Einmal, es war an einem Ostermontag, hatte sie nach zwei Gläsern Rotwein einen Anflug von Sentimentalität und berührte mit dem Zeigefinger Charles’ Schulter. Das war das Maximum an Leidenschaft und Zuneigung, das sie aufbrachte.
Es gab Tage, an denen Charles die Situation zu schaffen machte. Nach schwierigen Exekutionen war es nicht einfach,nach Hause zurückzukehren und diese Kälte zu spüren. In diesen deprimierenden Augenblicken sehnte sich Charles nach seinem Vater. Doch er war bereits ein paar Jahre zuvor gestorben, und so suchte er ihn an seiner letzten Ruhestätte auf, in der Kirche Saint-Laurent. Hinter der letzten Stuhlreihe war die Gruft. Auf den Steinplatten stand nichts geschrieben. Charles wusste aber, dass die Überreste seines Vaters unter einer dieser Platten lagen. Hier konnte er sich Klarheit über seine Gedanken verschaffen. Jeder Mensch braucht einen Freund, der ihm hilft, die Mitte zu wahren, dachte er. Es kann ein stummer Freund sein. Sogar ein toter Freund. Er muss nichts entgegnen, einfach da sein, so dass man in Gedanken zu ihm sprechen und seine Ratschläge
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