Der Henker von Paris
weitgehend zurück, und Gros übernahm wieder die Küche. Die meiste Zeit verbrachte sie bei ihrer kranken Mutter auf dem Gärtnerareal. Als sie eines Morgens zurückkam, wusste Charles, dass ihre Mutter gestorben war, obwohl Marie-Anne kein einziges Wort sagte. Sie zog sich in das Schlafzimmer zurück, schloss die Läden und verharrte in der Dunkelheit. Nur manchmal hörte er nachts ihre Schritte, wenn sie in der Küche Wein holte. Sie blieb in ihrer finsteren Welt. Charles nahm an, dass sich dies rasch geben würde. Aber es war nicht so. Es wurde schlimmer. Nach einigen Tagen verliess sie das abgedunkelte Zimmer und kümmerte sich um ihre Hunde. Sie war der Meinung, dass Charles nicht in der Lage war, ihre Hunde zu füttern. Sie sass nun meistens im Hof und sprach leise mit ihren Vierbeinern. Dann patrouillierte sie zwischen den Kräutern und Gemüsebeeten, zupfte hier ein abgestorbenes Blatt ab oder gab jener Pflanze etwas Wasser. Wenn Charles den Hof betrat, setzte sie ein grimmiges Gesicht voller Verachtung auf. Wollte einer der Hunde Charles begrüssen, zischte sie irgendeinen Befehl, um ihn zurückzuhalten. Dann lächelte sie still vor sich hin, weil der Hund gehorchte und Charles nicht begrüsste. Aber die Hunde wedelten trotzdem mit dem Schwanz. Charles versuchte einige Male, mit ihr zu sprechen. Aber sie wollte nicht. Er fragte sich, ob sie vielleicht krank geworden war. Im Hirn.
Einige Monate später wurde ihr Charakter wieder aufbrausend, und sie geriet immer öfter mit Nachbarn wegenirgendwelcher Bagatellen in Streit. Dann wieder machte sie Charles Vorwürfe, dass er sie zu wenig liebe, wenn er sie aber zärtlich berühren wollte, wich sie zurück, als hätte er eine Seuche. Marie-Annes unheimliche Verwandlung machte Charles traurig. Das hatte er nicht erwartet. Er konnte es nicht fassen, dass er sein Junggesellendasein gegen so etwas eingetauscht hatte. Marie-Anne besuchte nun immer öfter ihre Schwester, obwohl sie ständig mit ihr stritt. Wegen des Erbes. Der einzige Streitpunkt, den Charles in ihrer Ehe eigentlich erwartet hatte, war kein Thema: der Henkersberuf. Sie stand voll dahinter. Die gute Bezahlung war Grund genug. Geld konnte sie nie genug kriegen. Sie hortete es. Sie genoss nichts. Nicht einmal ihre beiden Buben, die prächtig gediehen. Charles liebte die beiden über alles. Für sie war er bereit, den Beruf noch eine Weile auszuführen, um ihnen später eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Das Wohl der beiden Söhne war ihm wichtiger als die Erfüllung seiner Träume. Henri überragte schon bald seine gleichaltrigen Kameraden deutlich. Er liebte das Schwimmen in der Seine, den Ausritt und die Jagd mit Charles. Er war richtig stolz auf seinen Vater und fühlte sich immer mehr zu ihm hingezogen, denn die Kälte seiner Mutter war sehr kränkend. Nie umarmte oder küsste sie ihre Söhne, wie sie es mit ihren Hunden tat. Mit den Jahren verlor sie ihre Söhne gänzlich an Charles.
Henri interessierte sich immer mehr für den Beruf seines Vaters. Der Anblick von Blut hatte ihn nie irritiert, es war nicht furchterregender als eine Weinlache. Und wenn Barre im Hof ein erlegtes Reh ausweidete, sah er interessiert zu, während seine Schulkameraden entsetzt die Hände vorsGesicht hielten. Die Mädchen schwärmten für Henri, denn er hatte ein schönes, männliches Gesicht und sehr breite Schultern, die sich durch das tägliche Schwimmen kräftig entwickelt hatten.
Gabriel hatte keine breiten Schultern. Die Spezialschuhe, Einlagen und Beinstützen, die ihm Tobias Schmidt nach monatelangen Anpassungen angefertigt hatte, erlaubten ihm nun, sich frei zu bewegen. Aber er nutzte diese neue Freiheit kaum. Er hatte sich daran gewöhnt, zusammen mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft am Klavier zu sitzen und zu spielen. Seine langjährige Behinderung hatte ihn zum ängstlichen Stubenhocker gemacht. Obwohl die Behinderung teilweise behoben war, war die Ängstlichkeit geblieben. Er hatte Angst vor grossen Tieren. Er hätte nie ein Pferd an den Nüstern berührt. Er hatte auch Angst vor dem Wasser und mied Flüsse und andere Gewässer. Sicher fühlte er sich nur zu Hause am Klavier.
Als Henri zum ersten Mal sagte, er wolle später auch Henker werden, wachte Charles in den Nächten danach schweissgebadet auf. Der Gedanke an den Fluch war zurückgekehrt. Marie-Anne unterstützte Henri in seiner Absicht. Charles war sich nicht ganz sicher, ob sie das aus Überzeugung tat oder nur, um ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher