Der Henker von Paris
anhören kann, auch wenn diese von einem selbst erfunden werden. Aber man muss sein Leid in Worte fassen können, und man kann es deshalb dem Fluss klagen, einem Pferd, einem hölzernen Kreuz, einem Tagebuch oder einem Blumenkohl. Nur wenn man sein Leid in Worte fassen kann, erhält es eine Form, die man wie ein Stück Tonerde bearbeiten kann. Denn in jedem Leid steckt auch die Lösung. Daran glaubte Charles.
Ein Obdachloser döste auf einer der Steinplatten. Er schreckte hoch, als er Charles sah.
»Weisst du, wer unter dir begraben liegt?«, fragte ihn Charles.
»Ein frommer Mann, Monsieur, der nie an mir vorbeiging, ohne mir ein Almosen zu geben.«
»Wie viel gab er dir denn?«
»Ein Livre«, sagte der Mann.
»Dann will ich dies auch tun«, sagte Charles und reichte ihm ein paar Münzen. »Mein Vater hätte es so gewollt.«
Jetzt realisierte der Alte, dass der Sohn des wohltätigen Henkers Jean-Baptiste vor ihm stand. »Monsieur«, klagte er, »die Menschen sterben vor Hunger, und niemand kümmert sich um sie. Ist denn Gott nur der Gott des Königs und der Adligen?«
»Ich weiss es nicht«, sagte Charles, »vielleicht ist Gott kurz mal weggegangen, irgendwohin.«
Charles verkaufte das Haus an der Rue d’Enfer. Er war jetzt Ende vierzig und wollte sich neu einrichten, einen Hausteil für sich allein haben. Ein weiterer Grund: Er verdiente am Verkauf des Hauses und konnte so Geld für Gabriel auf die Seite legen. Sie zogen in die Rue Neuve Saint-Jean. Das neue Haus war nicht so gross wie das alte, es hatte aber auch einen Hof, einem römischen Atrium ähnlich, über den man rechts in die grosse Wohnküche und in die Wohnstube gelangte. Links gab es einen separaten Eingang zum Empfangszimmer, wo Charles seine Patienten betreute. Hinter dem Empfangszimmer lag die Pharmacie, dahinter das Laboratorium, das kaum jemand betreten durfte. Dem Hofeingang gegenüber lagen Waschkeller, Gesindestube, Ställe, Schuppen und Holzkammern. In der oberen Etage waren sowohl zur linken als auch zur rechten Seite Schlafgemächer für Charles, Henri und Gabriel sowie für die Gehilfen. Marie-Anne hatte ihr eigenes Zimmer.
Charles war sehr zufrieden über seinen Entscheid und fühlte sich wohl am neuen Ort. Doch die Verhältnisse in Paris waren deprimierend. Die letzten Winter waren sehr hart gewesen, die Ernte weitgehend verfault, das Brot teuer und knapp. Sehr knapp. Paris hatte Hunger und kochte vorWut. König Louis XVI und seine verschwenderische Gemahlin, die verhasste Österreicherin Marie Antoinette, der Adel, der Klerus: niemand nahm diese Wut zur Kenntnis. Bis zu dem Tage, an dem Jean-Louis Louchart qualvoll sterben sollte.
8
Jean-Louis Louchart gab der Wut ein Gesicht. Er hatte in Notwehr seinen trunksüchtigen und gewalttätigen Vater umgebracht. Vater und Sohn hatten einmal mehr über Benjamin Franklin gestritten, Erfinder des Blitzableiters und einer der Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dort stand geschrieben, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind. Überall in den Strassen konnte man Franklins Porträt kaufen. Paris liebte diesen ehemaligen Diplomaten, wie auch seinen Landsmann und Nachfolger Thomas Jefferson, der nun als Gesandter an der Seine residierte. Beide waren klug und bescheiden und unterstrichen mit ihren unauffälligen, schlichten schwarzen Anzügen, dass sie sich als Teil des Volkes betrachteten. Kein Pomp zierte ihre Kleidung, keine gepuderten Perücken, keine vergoldeten Knöpfe.
Bei dem heftigen Streit hatte Vater Louchart den Hammer erhoben und seinem Sohn gedroht, worauf dieser die Scheune verlassen und geschrien hatte, er werde sich in der Stadt Arbeit suchen und nie mehr zurückkehren. In diesem Augenblick hatte der Vater den Hammer geworfen, scharf am Kopf seines Sohnes vorbei. Jean-Louis hatte den Hammer aufgehoben und zurückgeworfen. Voller Wut. Unglücklicherweise hatte er den alten Herrn auf der Nasenwurzel getroffen und einen Teil des Gehirns zerschmettert. Dafür wollte ihn der Hof von Versailles öffentlich hinrichten lassen, denn der alte Louchart war einst Stallmeister in den Ställen von Versailles gewesen. Diese Leute genosseneinen besonderen Schutz, und jeder Angriff auf sie wurde als Angriff auf den Hof gedeutet.
Charles missfiel das Todesurteil. Er wusste, dass Louchart als äusserst brutaler und jähzorniger Mann gefürchtet war, der weder Vieh noch Mensch verschonte. Aber er spürte auch, dass der Fall Louchart mehr war als eine
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