Der Henker von Paris
Familientragödie. Er war der Vorbote eines orkanartigen Sturms. Immer offener prangerten die Menschen die Missstände an, und immer mehr verloren sie den Respekt vor der Monarchie und den Ordnungskräften. Von der Kirche konnte man nichts erwarten. Die Menschen hatten nichts mehr zu verlieren.
Am Tag der Hinrichtung verliessen zwei Karren in den frühen Morgenstunden den Gefängnishof im Städtchen Versailles. Sie wurden bereits von einer grossen Menschenmenge erwartet. Doch als die Tore geöffnet wurden und Charles-Henri Sansons Wagen erschienen, gab es weder Hohngelächter noch Geschrei. Die Menge schwieg. Es war ein bedrohliches Schweigen. Mit finsteren Blicken starrten die Menschen auf Charles, der wie ein Feldherr aufrecht im ersten Wagen stand. Das Haar hatte er sorgsam gekämmt und gepudert. Er trug einen geknöpften Gehrock von dunkelgrüner Farbe. Der englischen Mode folgend trug er auch einen schwarzen Zylinder. Während andere Henker in Frankreich noch in martialischen Stiefeln und blutroten Mänteln auftraten, versuchte Charles dem Amt durch seine Kleidung zusätzliche Würde zu verleihen. Sie sollte zum Ausdruck bringen, dass er nicht der Schlächter mit dem Beil, sondern ein Beamter der Justiz war. Hinter ihm sassen Desmorets, Barre, Firmin und sein Sohn Henri. Es war Henris Wunsch gewesen, dabei zu sein.
Berittene Soldaten bahnten ihnen den Weg. In einer langsamen Prozession fuhren sie durch Versailles zur Kirche Notre-Dame. Noch immer schwieg die Menge, doch Charles spürte ein seltsames Knistern in der Luft, das Unheil ankündigte. Er konnte die explosive Gewalt, die in der Menge brodelte, förmlich fühlen. Er half Louchart aus dem Wagen und nahm das schriftliche Urteil aus seiner Tasche. Der Verurteilte war barfuss und trug ein blutrotes Hemd. Er hatte eine Schlinge um den Kopf. Mit beiden Händen hielt er eine Kerze umklammert und kniete mit gesenktem Kopf vor der Hauptpforte der Kirche. »… wird Jean-Louis Louchart verurteilt, an Armen, Beinen, Schenkeln und Rückgrat gebrochen und auf dem Schafott lebend gerädert zu werden. Zu vollstrecken auf der Place Saint-Louis.« Ein Raunen durchflutete die riesige Zuschauermenge. Jetzt begann sich etwas zu regen. Charles sah es sehr deutlich in den Gesichtern der Menschen. Er warf einen kurzen Blick auf Henri, doch dieser verzog keine Miene. Obwohl man aus Sicherheitsgründen die Vollstreckung auf fünf Uhr morgens anberaumt hatte, waren Tausende Menschen auf den Beinen. Sie waren sehr aufgebracht, denn für sie alle war erwiesen, dass der Täter in Notwehr gehandelt hatte. Und jeder kannte die Geschichte dieses Grobians, der von seinem Sohn erschlagen worden war. Als der Gehilfe Barre Louchart erneut auf den Karren bat, wurde das Raunen unter den Zuschauern immer lauter. Es glich dem bedrohlichen Fauchen eines Raubtiers, das gleich zum Angriff übergehen wird. Normalerweise wurde applaudiert und der Täter verhöhnt, doch diesmal schien die riesige Menschenmenge zornig und empört. Die Leute empfanden offenbarso etwas wie Mitgefühl. Das war neu. Man hätte meinen können, sie hätten alle Rousseau gelesen. Noch nie hatte eine solche Masse von Menschen Mitgefühl für einen zum Tode Verurteilten empfunden. Vielleicht spielte auch die zunehmende Verbitterung des Volkes gegenüber dem König eine Rolle. Der arme Louchart nahm fälschlicherweise an, der Zorn der Masse richte sich gegen ihn. Er wurde sehr unruhig und zunehmend verängstigt. Der Priester, der bereits auf dem Karren stand, umarmte ihn und erteilte ihm die Absolution. »Sagen Sie ihm, dass die Richter ihrem Erlass ein Retentum hinzugefügt haben«, flüsterte Charles.
Am Ausgang der Rue de Satory kam der Karren ins Stocken. Es gab kein Durchkommen mehr. Soldaten versuchten, den Weg frei zu machen, doch es war zwecklos. Plötzlich hörte man aus dem Raunen und Heulen des Publikums eine zarte Stimme heraus. »Adieu, Jean-Louis, mon amour.« Es war die junge Hélène, die Geliebte des Verurteilten. Ihre Stimme klang so unschuldig und verzweifelt, dass es einem das Herz zerriss. Sie kämpfte sich durch die Menge zum Wagen. Niemand mochte dem fragilen Geschöpf im Weg stehen. Schliesslich erreichte sie den Karren und klammerte sich an den Holzgittern fest. Sie strauchelte, aber sie liess nicht los und wurde vom Wagen mitgezogen. Plötzlich tauchte ein Hüne von Mann auf. Er ging mit grossen Schritten um den Karren herum, sprang auf die Deichsel und brüllte aus voller Kehle: »Jean-Louis,
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