Der Henker von Paris
keine privaten Besuche empfangen. Und wann endete ihre Arbeitszeit? Das sei sehr unterschiedlich. Da müsse er Pater Gerbillon fragen, aber der sei wie schon erwähnt beim Gebet.
An einem regnerischen Freitagnachmittag klopfte jemand an die Haustür der Sansons. Charles dachte instinktiv an Dan-Mali und eilte zur Tür. Zu seiner grossen Enttäuschung stand ein Abgeordneter der Nationalversammlung vor ihm, der schüchterne Doktor Joseph-Ignace Guillotin. Sein Besuch ehrte Charles, stand doch Guillotin dem Leibarzt des Königs, Doktor Antoine Louis, sehr nahe. Als Mitglied einer königlichen Kommission untersuchte er den animalischen Magnetismus nach der Lehre von Franz Anton Mesmer. Als Gründungsmitglied der liberalen Freimaurerloge Grand Orient de France war er immer wieder Gegenstand wilder Gerüchte.
Charles bat ihn in seine Pharmacie und bot ihm etwas zu trinken an, doch der Gast lehnte irritiert ab. Guillotin setzte sich Charles gegenüber und wartete, bis er dessen ganze Aufmerksamkeit hatte. »Ich habe Ihr Schreiben anden Generalstaatsanwalt Roederer gelesen. Sie hätten das Schreiben auch an Fouquier adressieren sollen, er war darüber sehr erbost.«
»Fouquier?«, fragte Charles. »Antoine Fouquier de Tinville?«
»Ja«, erwiderte Guillotin, »auch er hat ein Amt als Staatsanwalt erworben. Er hat geerbt. Aber nennen Sie ihn um Gottes willen nicht mehr Fouquier de Tinville. Er nennt sich nur noch Antoine Fouquier, um seine adlige Herkunft zu verschleiern. Das Volk von Paris ist nicht mehr berechenbar. So ändern sich die Zeiten. Aber reden wir von Ihrem Schreiben, Monsieur. Es ist auf Interesse gestossen, denn auch wir beschäftigen uns mit der Humanisierung der Hinrichtung, ungeachtet der Herkunft des Verurteilten.«
»Das wird kaum realisierbar sein«, entgegnete Charles, »denn selbst wenn alle Delinquenten mit dem Schwert hingerichtet würden, wäre eine Hinrichtung nie wie die andere. Die meisten zittern, ihr Mund wird trocken, sie können nicht mehr sprechen und zappeln plötzlich, so dass es schwierig wird, einen sauberen Schnitt zu führen und den Kopf vom Rumpf zu trennen. Um dem Gesetze Genüge zu tun, muss der Scharfrichter sein Handwerk hervorragend beherrschen, und der Verurteilte muss unbedingt still halten.«
»Das ist etwas viel verlangt«, murmelte Guillotin höflich.
»Ein weiterer Punkt sind die Kosten. Nach jeder Exekution ist das Schwert unbrauchbar. Es ist unumgänglich, das schartig gewordene Schwert zu schärfen und zu schleifen. Manchmal brechen die Schwerter. Es kann böse Unfälle geben, wenn die Spitze der abgebrochenen Klinge insPublikum schiesst oder den danebenstehenden Gehilfen trifft. Das ist eine sehr barbarische Hinrichtungsart. Sie müssen bedenken, wenn der erste Schwerthieb fehlschlägt, hängt der Kopf an einzelnen Sehnen noch am Rumpf, und ein Gehilfe muss diese mit einem Messer durchtrennen, bis sich der Kopf endlich löst. Das ist eine furchtbare Schlächterei. In meinem ersten Jahr als Henker brauchte ich einmal vier Versuche. Ich glaube, beim fünften Versuch hätte mich das Volk gelyncht.«
»Welche Hinrichtungsart ist denn die humanste? Welche entspricht den Idealen unserer Revolution? Welche Hinrichtungsart verkürzt das Leiden?«
»Das Beste wäre eine Maschine, die ein Fallbeil führt. Jeder Verbrecher würde genau die gleiche Hinrichtungsart erleiden. Der Scharfrichter löst nur noch den Stift, der das Beil blockiert.«
Guillotin lächelte kurz. Dabei zeigte er seine bräunlich verfärbten Zähne, die an einen morschen Gartenzaun erinnerten.
»Ich könnte ein derartiges Modell entwerfen«, sagte Charles, »Tobias Schmidt könnte mir dabei helfen.«
»Tun Sie das«, sagte Guillotin. »Ich werde mir erlauben, in zwei Wochen wieder bei Ihnen vorbeizuschauen.«
Am folgenden Tag schien sich Charles’ Ausdauer vor dem Jesuitenkloster gelohnt zu haben. Eine Kutsche fuhr vor, und Pater Gerbillon stieg aus. Er war alt geworden. Charles stürmte sofort auf ihn zu und rief seinen Namen.
»Monsieur de Paris!« Pater Gerbillon schmunzelte und zeigte auf den Freiheitsbaum vor dem Treppenaufgang. Erwar mit blauen, weissen und roten Girlanden geschmückt und trug die rote Freiheitskappe. »Wissen Sie, was das da oben ist?«
»Nein«, antwortete Charles ungeduldig, »ich muss mit Ihnen reden.«
»Das ist eine phrygische Mütze. Irrtümlicherweise glauben die Revolutionäre, diese rote Mütze sei in der Antike von freigelassenen Sklaven getragen worden. Aber
Weitere Kostenlose Bücher