Der Henker von Paris
Mit teils schweren Schnitt- und Stichwunden schleppten sich einige Dutzend Männer schreiend und stöhnend wieder aus der Kaserne hinaus, als kämen sie direkt aus der Hölle. Waffen wurden verteilt.Einige schleppten Kanonen aus dem Hof, darunter auch eine besonders kostbare, die mit Silber beschlagen war. Die aufgebrachte Menge schrie sich noch mehr in Rage und wurde zur Furie, zur Furie ohne Kopf, ohne Führung.
Charles und Henri beobachteten neugierig, wie ein Dutzend Männer die Silberkanone zur Strasse zog, als sich plötzlich eine Frau vor die Prunkwaffe stellte. Ihre Haut war dunkler als die Haut der Französinnen, und ihr schwarzes Haar reichte bis zur Taille. Sie schrie und gestikulierte wild und erinnerte Charles an Dan-Mali. Als sie näher kamen, sah Charles, dass sie es tatsächlich war. Er konnte es kaum glauben. Sie hatte immer noch diese feinen Gesichtszüge und diese geheimnisvolle Körpersprache, die Demut und Stärke signalisierte. Einer der Aufständischen packte sie an den Haaren und zog sie zu sich heran. Charles stürzte sich sofort auf den Mann und warf ihn mit Wucht zu Boden. Als der Kerl sich wieder erheben wollte, schlug ihm Charles die Faust senkrecht auf den Kopf. Er blieb auf den Knien und wankte benommen. Dan-Mali starrte ungläubig auf den Riesen, der ihr geholfen hatte. Sie stürzte sich auf Charles, umklammerte ihn und weinte. »Ich wusste, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Kun kwaun. «
»Dan-Mali«, flüsterte Charles.
»Vorsicht, Vater!«, schrie Henri und stellte sich mutig den Männern in den Weg, die ihrem gestürzten Freund zu Hilfe eilen wollten. Henri baute sich schützend vor seinem Vater auf und grinste frech. So viel Selbstbewusstsein irritierte die Angreifer.
»Wollt ihr euch an einer wehrlosen Frau vergreifen?«, schrie Charles und schlug dem Nächstbesten die Faust insGesicht. Er sackte sofort zusammen und blieb am Boden liegen. Seine Nase war gebrochen, das Blut floss über sein Kinn. Seine Kameraden umringten nun Dan-Mali, Charles und Henri.
»Wer bist du?«, schrie einer theatralisch, so dass weitere Aufständische stehen blieben.
»Die Bastille ist dort drüben«, rief ihnen Charles entgegen. »Wenn ihr sie stürmen wollt, dann stürmt sie.« Er nahm Dan-Mali schützend in den Arm. Sie klammerte sich zitternd fest.
Die beiden Sansons irritierten die Aufständischen. Wie konnte man bloss den Mut aufbringen, sich gegen eine ganze Meute zu stellen? Ein Hüne drängte sich nach vorn. »Lasst ihn in Ruhe, ich kenne diesen Mann. Es bringt kein Glück, ihm etwas anzutun.« Es war der Schmied aus Versailles. Allmählich löste sich die Gruppe auf, und die Männer zogen mit ihrer erbeuteten Prunkkanone weiter.
Dan-Mali wollte sie erneut daran hindern, aber Charles hielt sie davon ab. »Die Kanone ist ein Geschenk meines Königs an deinen König. Niemand darf sie stehlen. Das wäre eine grosse Schande für Siam«, sagte Dan-Mali. Sie blickte schüchtern zu ihm auf, bis ein verlegenes Lächeln über ihre Lippen huschte. »Kun kwaun«, wiederholte sie.
»Kun kwaun?«, fragte Charles lächelnd.
Sie wischte sich Tränen aus den Augen.
»Du hast unsere Sprache gelernt«, sagte er anerkennend.
»Weil ich wusste, dass wir uns eines Tages wiedersehen.«
Henri folgte der aufgebrachten Menschenmenge. Charles wollte ihn nicht alleinlassen und sagte zu Dan-Mali:»Komm, wir gehen zur Bastille.« Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Ein ihm bis dahin unbekanntes Gefühl von Wärme übermannte ihn. Er hatte sie wiedergefunden.
Die Bastille war ursprünglich eine Torburg im Osten von Paris. In diesen Tagen diente sie als gigantische Gefängnisfestung. Ihre acht Türme ragten wie steinerne Ungeheuer in den Himmel. Die Bastille war das verhasste Machtsymbol des Königs. Ihr Befehlshaber war Marquis Bernard-René de Launay. Unter ihm dienten rund achtzig Kriegsversehrte und gut dreissig Schweizergardisten. Charles zeigte auf die Dächer der Verkaufsstände, die entlang der wuchtigen Aussenmauern aufgestellt waren. Die Händler schien nicht zu stören, dass nun Hunderte von Aufständischen auf ihren Tischen und Waren herumtrampelten. Nein, sie halfen sogar einigen dabei, die Mauern zu erklimmen. Auf diese Weise gelangten die Männer in den ersten Vorhof und konnten die Zugbrücke herunterlassen. Launay verlor rasch die Nerven und liess mit Kanonen in die Menge feuern, die nun siegessicher in den Hof stürmte und sich an der nächsten Zugbrücke zu
Weitere Kostenlose Bücher