Der Henker von Paris
mittlerweile der Wohnort der dort festgesetzten königlichen Familie. Ein Diener in blauer Livree geleitete die Gäste durch die riesigen Säle und Vorhallen. Jeglicher Glanz war verblasst. Der Palast wirkte wie ausgestorben. Nie hatte Charles das baldige Ende der Monarchie stärker gespürt als in diesen menschenleeren Sälen. Das Kabinett des Doktors war hingegen reich dekoriert und mit Möbeln aus edlem Holz eingerichtet. Hier wurden Möbel und Teppiche noch gereinigt und gepflegt. Louis und Guillotin begrüssten sich höflich.
»Und jetzt wünsche ich, die neue Skizze zu sehen«, sagte Louis.
Guillotin legte sie auf den Tisch.
Louis beugte sich vor. »Die Anmerkungen sind von wem?«
»Vom Bürger Sanson, Vollstrecker der Strafurteile zu Paris.«
Louis warf Charles einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder der Skizze. Er liess sich Zeit, viel Zeit. Plötzlich vernahm Charles ein feines Geräusch. Er drehte sich um und sah, wie sich eine kaum sichtbare Tür in der Wand öffnete. Louis erhob sich sofort, während ein Mann durch die Tapetentür trat. Seine Erscheinung war imposant. Er bewegte sich langsam und mit Selbstsicherheit auf den Tisch zu und nahm die Skizze. Er legte den Kopf etwas zur Seite und schürzte die Lippen, würdigte aber weder Charles noch Guillotin eines Blickes.
»Nun, Doktor Louis, was halten Sie von der Skizze?«, fragte er.
»Sie entspricht genau unseren Vorstellungen.«
»Ich bezweifle«, sagte der Mann, »dass ein gerundetes Fallbeil für jede Art Nacken geeignet ist. Jeder Hals hat eine andere Grösse.«
Charles schaute instinktiv den fetten Hals des Mannes an und dachte, dafür sei ein gerundetes Fallbeil tatsächlich ungeeignet.
»Ist das der Mann?«, fragte er und deutete mit dem Kopf in Charles’ Richtung, ohne ihn dabei anzusehen.
»Ja«, antwortete Louis und beugte respektvoll den Kopf.
»Fragen Sie ihn, wie er sich das Fallbeil am besten denkt.«
Louis wandte sich an Charles: »Sie haben die Frage gehört. Ihre Antwort bitte.«
»Er hat recht«, sagte Charles, »die halbmondförmige Form könnte ab und zu unerwünschte Schwierigkeiten bereiten.«
Der Mann war zweifelsohne König Louis XVI, obwohl er keinerlei Orden oder sonstige Auszeichnungen an seiner hellblauen Weste trug. Er lächelte befriedigt und verbesserte die Zeichnung mit energischen Strichen. Er korrigierte die halbmondförmige Klinge, bis das Fallbeil ein schräg abfallendes Messer zeigte, das beim Aufprall eine schneidende Bewegung ausführen würde. »Ich kann mich irren«, sagte der König lächelnd, »probiert es aus.« Er grüsste höflich mit der Hand und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war, durch die Tapetentür.
Die Änderung, die der König angeregt hatte, leuchteteCharles ein. Jetzt würde es sogar für einen Stiernacken reichen, dachte er.
Nun wurde Doktor Louis von allen Seiten bedrängt, die Sache zu beschleunigen. Die einen wünschten sich die rasche Einführung einer humanen Hinrichtungsmethode, andere verlangten nach mehr Maschinen, um eine grössere Zahl von Verurteilten exekutieren zu können.
Im September 1791 bezogen einige junge Leute den leerstehenden Schuppen der Sansons. Charles war froh um die Miete, war sie auch noch so bescheiden. Sie brachten eine Druckerpresse, Kisten mit Druckfarbe und eine Menge Papier. Charles beobachtete sie beim Einzug und fragte einen von ihnen: »Was wollt ihr denn drucken? Assignaten?«
Der junge Mann lachte und entrollte ein Flugblatt. »Das sind Liedtexte der Revolution. Wir verkaufen sie im Palais Royal. Sie sind sehr begehrt.«
»Nun gut«, sagte Charles, »wie auch immer: Bezahlt die Miete pünktlich zum Monatsersten.«
Gabriel war fasziniert von der Druckerpresse. Wenn er nicht gerade las, Klavier spielte oder Charles in der Pharmacie half, ging er über den Hof zu den jungen Leuten. Sie mochten ihn und halfen ihm, seit er einmal der Länge nach hingefallen war, da die Holzdielen sich im Laufe der Jahrzehnte stark verzogen hatten. So kam ihm meist einer der jungen Männer entgegen, wenn er ihn über den Hof laufen sah, und nahm ihn bei der Hand.
Charles schätzte das sehr. Er notierte es gar in sein Tagebuch. Er wünschte sich, dass sein Sohn ein solides Beziehungsnetz von Freunden hatte, wenn er eines Tages nichtmehr da war. Er hielt auch fest, dass Louis XVI nun Bürger Capet hiess und einen Eid auf die neue Verfassung geschworen hatte. Er hatte seine Macht verloren. Zwar durfte er noch den König mimen und
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