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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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repräsentieren, aber er hatte nichts mehr zu sagen. Das war die Stunde der Abgeordneten, die in diesem Vakuum der Macht Fuss fassen wollten. Sie versuchten sich zu profilieren und mit teilweise absurden Wortmeldungen für höhere Ämter zu empfehlen. Sie machten unsinnige Versprechungen, die kein Mensch halten konnte. Alles diente nur dem Zweck, wiedergewählt zu werden. Es hagelte neue Vorschriften, Verordnungen, Gesetze, doch die Strasse wollte die Macht nicht teilen. Tausende berauschten sich weiterhin an Plünderungen und Morden. Die Ordnung war zusammengebrochen. Nur wenige wagten es, dieser zornigen Masse zu widersprechen. Die feinen Abgeordneten der Nationalversammlung biederten sich an, um nicht in den Verdacht zu geraten, Royalisten zu sein, und rückten so tiefer ins radikale Lager, ins Lager der Sansculotten, die die Strassen beherrschten. Die Sansculotten waren radikale Arbeiter und Gesellen, die im Gegensatz zu den Adligen keine Kniebundhosen trugen, sondern praktische lange Hosen. Deshalb trugen sie den Namen »die ohne Kniebundhosen«.
    Niemand schützte mehr nachhaltig die Freiheitsrechte, die man so heroisch erstritten hatte. Die Menschen waren wieder der gleichen Willkür ausgesetzt wie während der Monarchie. Die Anarchie der Strasse ersetzte die alte Ordnung. Mit Voltaire, Rousseau und Montesquieu hatte niemand mehr etwas am Hut. Plötzlich stand jeder, der sich auf der Strasse nicht lauthals artikulierte, unter Verdacht.Das Denunziantentum blühte, und mancher beglich eine längst fällige Rechnung mit einem Nachbarn. Österreichische und preussische Truppen näherten sich Frankreichs Grenzen. Der König versuchte, zu fliehen und sich zu den anrückenden Armeen durchzuschlagen. Es misslang. Er wurde erneut unter Arrest gestellt und zur Strafe vorübergehend von seinen repräsentativen Ämtern suspendiert.
    »Was schreibst du in dieses Buch?«, fragte Dan-Mali, während sie gedankenverloren in einem Mörser getrocknete Rinde pulverisierte.
    »Das, was ich niemandem anvertrauen kann.«
    »Schreibst du auch über mich, über uns?«
    »Nein«, sagte Charles, »das würde ich diesem Buch nicht anvertrauen.«
    »Kann ich hier eine Stunde schlafen?«
    Charles nickte. »Findest du im Jesuitenkloster keinen Schlaf mehr?«
    Dan-Mali lächelte matt und setzte sich auf das Bett. Erneut fiel Charles auf, dass sie gewisse Bewegungen vermied.
    »Hast du irgendwo Schmerzen?«, fragte er.
    Dan-Mali schien erstaunt. Sie schüttelte den Kopf und legte sich hin. Charles schrieb weiter in seinem Tagebuch. Es gab so vieles festzuhalten. »Paris hungert«, sagte Charles, »davon schreibe ich jetzt.«
    »Im Kloster hungert niemand«, sagte Dan-Mali, »die Patres haben volle Vorratskammern, aber sie teilen nichts mit den Bedürftigen. Sie predigen Wasser und trinken Wein. Jetzt verstehe ich dieses Sprichwort. Die Patres trinken abends sehr viel Wein. Sie sind oft betrunken. Manchmalstreiten sie sogar und werden laut. Sie fürchten die Zukunft. Sie fürchten die Revolution, die hungernden Menschen in den Strassen, die fremden Armeen an den Grenzen, den Verfall des Geldes, sie fürchten alles. Ausser Gott. Denn sie glauben nicht an ihn. Ich bete manchmal zu ihrem Gott. Buddha ist deswegen nicht eifersüchtig.« Sie lächelte. »Leg dich zu mir, und schliess die Augen, ich muss bald gehen.« Charles legte sich neben sie und hielt ihre Hand fest. Das viele Schreiben hatte ihn ermüdet.
    Als er wieder aufwachte, war Dan-Mali verschwunden. Einen Augenblick überlegte er ernsthaft, ob er das alles geträumt hatte.
    Gabriel stand in der Pharmacie. »Mutter ist zurück«, sagte er aufgeregt, »sie ist draussen im Hof.«
    »Wo ist Dan-Mali?«
    »Als sie die Pferde im Hof hörte, hat sie schnell das Haus verlassen.«
    Charles trat in den Hof hinaus und wusch sich den Kopf. Marie-Anne striegelte ihr Pferd. Sie schaute kurz zu Charles, aber ohne ihn zu begrüssen. »Gut geschlafen?«, fragte sie vorwurfsvoll. Da sie selbst mit nur wenigen Stunden Schlaf auskam, verachtete sie alle Menschen, die mehr Schlaf benötigten. Charles gab keine Antwort. Er kannte dieses Spielchen.
    Marie-Anne musterte ihn skeptisch. »War das deine Siamesin?«
    Charles nickte und ging in die Küche. Marie-Anne folgte ihm. Dass die Gehilfen anwesend waren, störte sie nicht.
    »Wie alt ist sie?« Jetzt stand Verbitterung in ihrem Gesicht.
    Charles setzte sich an den Tisch. Gros hatte bereits allen Suppe verteilt.
    »Ich habe sie nicht gefragt«, sagte

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