Der Herr Der Drachen: Roman
für mich zu finden, dann kannst du gehen … Wenn du möchtest.«
»Was ist es?«
Sein Mund verzog sich geheimnisvoll. »Das wirst du noch sehen. Aber keine Sorge, es wird nicht schwer werden. Vielmehr wird es dich finden.«
35
T allis stützte sich auf das Geländer des Laufstegs und beobachtete einige Kinder, die ein Netz in den schnell fließenden Fluss warfen. Er schätzte, dass die drei zwischen sechs und zehn Jahren alt waren. Sie schleuderten das Netz voller Selbstvertrauen hinaus und wateten dann nackt in das seichte Wasser. Alle hatten tief gebräunte Haut und kurzes, schwarzes Haar, und der größte der Jungen schrie den anderen beiden Anweisungen zu, schubste sie manches Mal hin und her oder zog sie zurück, wenn sie sich zu weit in die Tiefen des Flusses vorwagten.
Die Szene erinnerte Tallis an seine eigenen Brüder, und ein Stich durchfuhr ihn bei diesem Gedanken, den er rasch wieder beiseiteschob und in sich vergrub. Die Wüstenlande waren nun für ihn verloren, und seine Brüder lebten längst nicht mehr. Es gab kein Zurück. Er umklammerte das Geländer und zuckte zusammen, als ihm der Schmerz in die Schulter schoss. Die Wunde verheilte langsam und musste eigentlich neu versorgt werden, doch er war Alterin aus dem Weg gegangen. In ihrer Nähe traute er sich selbst nicht mehr über den Weg.
»Wäre schön, wieder so sorglos zu sein.« Attars Stimme riss ihn aus den Gedanken. Der Mann stellte sich neben ihn. »Ich habe als Junge so gerne geangelt. Und ich konnte einen Felsfrosch mit der bloßen Hand fangen.« Tallis sah ihn wortlos an, und Attar hob eine vernarbte Augenbraue. »Warst du schon mal fischen?«
»Nein.«
Attar stützte sich mit den Unterarmen aufs Geländer, das unter seinem Gewicht ächzte. »Tja, natürlich nicht. Gibt wohl nicht viele Fische in der Wüste, was?« Er stieß ein schnaubendes Lachen aus.
Tallis erwiderte noch immer nichts, und die beiden sahen zu, wie die jungen Burschen das Netz wieder ans Ufer zogen.
»Aber ich bin nicht gekommen, um mich mit dir über Fische zu unterhalten«, begann Attar schließlich.
»Weiß ich.«
»Wir müssen zurück«, sagte Attar. »Wir müssen dem Kommandanten berichten, was wir gesehen haben.« Tallis antwortete nicht, und Attar suchte sich eine bequemere Position auf dem Handlauf. »Außerdem beunruhigt irgendetwas hier die Drachen, sie sind … abwesend und schreckhaft geworden. Ich weiß nicht, warum. Ist dir das auch aufgefallen?«
Tallis sah auf seine Hände auf dem Geländer, ehe er antwortete. »Ich fühle es«, sagte er knapp. »Sie haben Angst.«
»Angst«, wiederholte der Reiter langsam. Tallis schaute zu ihm auf. »Attar, du hast mir mal erzählt, dass es in Salmut Männer gibt, die man Verführer nennt, Männer, die irgendwie den Geist der anderen kontrollieren können. Können sie andere auch mit ihren Gedanken töten?«
Der Blick, den Attar ihm zuwarf, war wachsam. »Möglicherweise. Ich weiß nichts über die Wege und Mittel der Verführer, Tallis. Warum?«
Tallis drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich versuche nur, deine Welt zu verstehen, das ist alles.«
Attar holte tief Luft und sah über den Fluss. Einige Zeit lang schwieg er. Ein Windstoß trieb das Gelächter der Kinder zu ihnen herüber, ebenso wie den schweren Geruch des Flusses und den kräftigen des Uferschlamms.
Attar sagte: »Als ich noch ein junger Kerl war, sah ich einmal, wie ein Junge in die Baracken gebracht wurde. Er war noch nicht alt und stammte aus den äußeren Dörfern. Seine Familie wollte ihn den Glaubenstreuen vorstellen, weil sie sich vor ihm fürchtete. Ich hörte sie sagen, er sei für das Verenden der meisten ihrer Muthus verantwortlich. Ein anderer Junge aus ihrem Dorf, der ihn geärgert hatte, läge leblos in seinem Bett. Der Bengel sah ganz unscheinbar aus, dünn wie ein Ast, aber er hatte etwas
Wildes an sich, das einen zu Tode erschrecken konnte.« Er sah Tallis an. »Er war nicht ausgebildet, und wie sehr sie es auch versuchten, sie konnten nichts mehr für ihn tun. Ich habe Gerüchte gehört, dass er so geworden sei, weil er seinen Geist zu weit für seine Fähigkeiten geöffnet habe und dann nicht mehr in der Lage gewesen sei, ihn wieder zu verschließen. Er tötete zwei Männer, ehe er sich von der Klippe ins Meer stürzte.« Ein eisiger Finger fuhr Tallis’ Rückgrat hinunter. »Geschieht das mit allen, die sich nicht von den Glaubenstreuen ausbilden lassen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Attar. »Aber ich
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