Der Herr Der Drachen: Roman
Satz.
»Er hat mir nicht gesagt, was du machst.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie mit bitterer Stimme. »Aber ich kenne ihn, Shaan, und er würde dich nie so leicht davonkommen lassen. Du musst mir versprechen, dass du von nun an vorsichtig bist. Ich will nicht, dass du so wie ich endest. Du könntest noch immer eine Reiterin werden.«
Wenn sie mich denn nehmen würden, dachte Shaan, und wenn ich das überhaupt noch will. Aber sie dachte im Moment nicht an sich selbst. Wann immer Tuon vom Kommandanten sprach, sah Shaan die Traurigkeit in ihren Augen. Den Schmerz. »Liebst du ihn?«, fragte sie.
Tuon wurde ganz still, dann wandte sie den Blick ab und starrte zum Gasthaus hinter ihnen. Sehr sanft berührte Shaan Tuons Hand. »Weiß er es?«
Da lachte sie auf, aber es klang eher wie ein rasselndes Keuchen. »Ich bin eine Hure, Shaan. Er ist der Kommandant der Glaubenstreuen, der Oberbefehlshaber der Armeen der Führerin. Ich habe alle Illusionen verloren, die ich vielleicht vor Jahren noch hatte.«
Shaan wurde das Herz schwer, so viel Mitleid empfand sie für ihre Freundin, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich liebe dich noch immer.« Sie lächelte dünn, und Tuons Gesicht entspannte sich ein wenig, als sie Shaan umarmte.
»Das ist ein Geschenk. Und nun geh schon …« Sie schubste sie sanft. »Musst du nicht noch Fisch fangen?«
Shaan seufzte und ließ die schmerzenden Schultern kreisen. »Ja.«
»Und vergiss nicht, ich will dich wegen dieser Albträume noch immer zu einem Traumseher bringen.« Sie fuchtelte mit einem Finger vor Shaans Nase herum.
»Ich weiß, dass sie dir auch jetzt noch keine Ruhe lassen.«
»Ja, Mutter.« Shaan rollte mit den Augen. »Ich muss jetzt los, wir sehen uns dann später am Abend.« Sie trat durch das Tor und spürte Tuons Augen in ihrem Rücken, während sie davonging.
Sie lief die Gasse entlang, die vom Gasthaus wegführte, und blieb an der Einmündung in die Große Allee stehen. Hier drängten sich die Leute, die von den Kais ins Herz der Stadt unterwegs
waren. Männer in rauer Seemannskleidung schlenderten gruppenweise umher, einige wenige Straßenhuren standen wartend an einer Ecke, und der Geruch von gebratenem Fleisch wehte durch die heiße Luft.
Drei Frauen von der Dracheninsel passierten Shaan, und ihre großen, muskulösen Körper bahnten sich einen Weg durch die Menschenmassen. Sie alle hatten einen blauen Meervogel in die schwarze Haut ihrer Wangenknochen eintätowiert, und sie bedachten Shaan im Vorbeigehen mit einem Blick aus ihren dunklen Augen. Shaan drehte sich nach rechts und schleppte sich die leicht abschüssige Straße hinunter, wobei sie immer wieder der entgegenkommenden Menge ausweichen musste. Die Sonne sank langsam am Himmel, und Shaan würde Glück brauchen, wenn sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Fisch aus dem Wasser ziehen wollte.
Müde wich sie einer Gruppe lärmender junger Männer aus und bog in eine leere Seitenstraße ein. Sie würde am Ende der Kais angeln müssen, denn es blieb ihr nicht mehr genügend Zeit, zu ihrer üblichen Stelle am Riff auf der anderen Seite des Hafens zu gelangen, und wenn sie eine Abkürzung nehmen wollte, um es doch noch zu schaffen, würde sie das Gebiet der Diebe durchqueren müssen. Sie kaute auf ihrer Lippe, hievte dann kurzentschlossen ihre Tasche auf die Schulter und griff mit der anderen Hand nach ihrem Speer. Wenn es Ärger geben würde, wollte sie wenigstens darauf vorbereitet sein.
Sie folgte dem schwach erleuchteten Straßenverlauf und gelangte zwischen zwei doppelstöckigen Steingebäuden hindurch auf eine breitere Straße, die parallel zur Großen Allee verlief. Diese Straße war von Männern und Frauen bevölkert, die unsicher auf den Beinen waren; ihre Gesichter waren unter schmutzigen Haaren, Hüten und Schleiern verborgen. Auf beiden Seiten drängten sich verwahrloste Gasthäuser oder Läden. Die meisten davon beherbergten in Wahrheit Verkäufer der gehirnvernebelnden Droge Crist.
Wachsam bog Shaan nach rechts ab und eilte die Straße hinunter,
wobei sie nach Möglichkeit in der Mitte blieb und die Augen offen hielt. Männer und Frauen, manchmal auch Kinder, hockten träge vor den Gebäuden und auf den Bordsteinen. Shaan kam eine Gruppe von vermutlich ehedem wohlhabenden Stadtbewohnern entgegen, und sie war gezwungen, ihnen auszuweichen. Sofort machte ein junges Mädchen einen Satz auf sie zu und umklammerte eines ihrer Beine.
»Eine Münze!«, krächzte sie und
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