Der Herr der Finsternis
dann war alles still.
Ich ging neben Len in die Hocke und streichelte über seine kalte Hand. Vor Freunden hatte ich jetzt keine Angst mehr, selbst vor toten nicht. Ein Freund verrät dich oder stirbt – so oder so verlierst du ihn. Len zum Beispiel war gestorben. Der Kater lebte noch, aber …
Ich trat an die aufgerissene Mauer und blickte in die Tiefe. Ich kön n te Len in meine Arme nehmen, im Gleitflug mit ihm nach unten s e geln und dort warten, bis der Turm einstürzt und aus seinen Ruinen der ehemalige Kater hinauf in den Himmel fliegt. Noch im selben Moment würde ich mich zu Hause wiederfinden … während die Fl ü gelträger hier die Sonne genießen, Len mit allen Ehren beerdigen und über mich eine schöne Legende spinnen würden. Dass ich im Kampf gestorben war. Oder das genaue Gegenteil: dass ich das Licht verraten hätte, zum Freiflieger geworden wäre, von Len umgebracht worden wäre, ihn aber auch noch hätte töten können.
Nein, ich würde nicht aus dem Turm fliehen. Und Len sollte auch hierbleiben. Wenn der Turm einkrachen würde, würde er sich in ein Denkmal für Len verwandeln.
Ich stand lange an dem Loch, schaute hinunter und über die Berge, in denen immer wieder das Schwarze Feuer aufzüngelte. Die Flüge l träger und die Erwachsenen waren immer noch im Kampf mit den Freifliegern, aber sie würden es schon schaffen. Gleich würde an i h rem Himmel die Sonne scheinen und die Freiflieger würden panisch in alle Richtungen fliehen. Oder sie würden in der Luft versteinern und als schwarzer Staub auf die Berge niederrieseln.
Als der Turm erzitterte und schwankte, wusste ich, dass die Ve r wandlung des Sonnenkaters in die Sonne begonnen hatte. Außerdem wurde mir schlagartig klar, dass ich nicht mir nichts, dir nichts in me i nem Zimmer landen würde. Zunächst mal würde eine neue Verborg e ne Tür entstehen.
Das beruhigte mich total. Mit einem Wahren Zauberer, der deine geheimsten Wünsche kennt, legst du dich besser nicht an. Austricksen kannst du ihn natürlich auch nicht. Aber du kannst sein Geschenk a b lehnen. Falls du den Mut dazu findest.
Und zumindest davor fürchtete ich mich nicht.
Die Steine bröckelten aus den Mauern heraus. Die Fackeln, die mit schwarzen Flammen gebrannt hatten, verloschen eine nach der and e ren, als tobe irgendwo ein Hurrikan, den ich weder sehen noch spüren konnte. Der Turm bebte, auf dem Marmorboden entstanden Zickzac k risse. Mit einem langen Heulen krachte die Wendeltreppe ein. Ich hö r te, wie unten die ersten Teile aufschlugen, während die oberen Stufen immer noch durch den Turm in die Tiefe sausten.
Ich hockte mich neben den toten Len und legte meine Hand auf se i ne Schulter.
»Keine Angst, ich lasse dich nicht im Stich«, flüsterte ich. »Du hast mich ja auch nicht verraten.«
In der Tiefe des Turms donnerte es grollend. Die Finsternis um uns herum erzitterte: Um den Turm herum brach sich das Licht seine Bahn. Die Wolkendecke am Himmel ging in Flammen auf und die Welt verwandelte sich von einer Sekunde auf die nächste aus einer tiefschwarzen in eine feuerrote. Der Turm neigte sich langsam und unaufhaltsam zur Seite.
»Du hast mich doch nicht vergessen, Kater?«, schrie ich in die sich auflösende Finsternis. »Und selbst wenn! Deine blöde Verborgene Tür werde ich trotzdem nicht aufmachen!«
In diesem Moment riss ein weißer Strahl den Fußboden auf. Über den Steinen bildete sich Schaum und sie zerfielen. Als der Strahl mich traf, tat das jedoch überhaupt nicht weh. Ich spürte bloß die Wärme, die in meinen Körper strömte. Das war es also, das Wahre Licht …
Als ob sich hundert Sonnenkater an mich schmiegten, um mich mit ihren Körpern zu wärmen.
Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich tat. Ich wusste einfach, was nötig war. Ganz langsam, um ja keinen Tropfen des Lichts zu verschütten, streckte ich mich neben Len aus. Eine Hand legte ich ihm aufs Gesicht, die andere auf die Brust, genau auf die Stelle, an der das Schwert der Finsternis in ihn eingedrungen war. Ich spürte, wie das Licht durch mich hindurchrauschte und in Len floss. Der Turm neigte sich immer tiefer und tiefer. Doch die Wunde unter meinen Fingern brauchte ewig, um sich zu schließen.
»Warum hältst du mich denn im Arm?«, fragte Len mit schwacher Stimme. In dem ganzen Gepolter hörte ich ihn kaum. Trotzdem wart e te ich noch ein paar Sekunden ab, bis er sich bewegte und die letzten Tropfen Licht in ihn eingedrungen waren.
Erst dann sprang ich auf.
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