Der Herr der Finsternis
dieses Gleichgewicht gewöhnt, das du zerstören willst.
»Zwischen Licht und Finsternis darf es kein Gleichgewicht geben«, sagte der Kater heiser.
Aha! War der Kater jetzt also imstande, meine Gedanken zu lesen!
»Ja, und was heißt das? Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich und legte die Scheide des Wahren Schwerts auf den Boden. Ich würde sie nicht mehr brauchen. Nie wieder. Dann stand ich auf, ging rüber zu Len, setzte mich neben ihn und bog ihm die starren, kalten Finger der Faust langsam auf. Damit er nicht auch noch im Tod weiterkämpfen musste.
»Was machst du da?«, wollte der Kater wissen.
»Ich verabschiede mich von ihm«, antwortete ich und schloss die Augen. Hätte noch gefehlt, dass ich jetzt anfange zu heulen.
»Danka, wir haben gesiegt! Nimm dir das nicht so zu Herzen. S i cher, Len kommt nicht zurück, aber … «
»Gesiegt, ja? Und wo bitte schön ist die Sonne?«
»Die Sonne bin ich.«
»Was?« Ich kriegte einen Lachkrampf, machte die Augen aber i m mer noch nicht auf. »Du? Wohl als Sonne im Westentaschenformat!«
»Nein, ich werde recht groß sein«, erklärte der Kater ohne einen Hauch von Ironie. »Hier im Keller lagern hundert Tonnen Sonnenste i ne, Danka. Ich werde ihr Licht trinken, groß wie dieser Turm werden, und ich werde sehr hell leuchten.«
»Aha«, sagte ich spöttisch. »Und wie lange wird dir dieses Licht re i chen?«
»Nicht sehr lange. Ein paar Tage nur. Aber du erinnerst dich vie l leicht noch, dass die Liebe ebenfalls Wahres Licht ist, oder? In dieser Welt leben Millionen von Flügelträgern, denen nichts geblieben ist außer ihrem Glauben, eines Tages kehre die Sonne in ihre Welt z u rück. Sie werden mich lieben, und diese Liebe … dieses Licht wird mir reichen, um für sie zu scheinen.«
»Und wenn sie dich irgendwann nicht mehr lieben? Wenn sie ve r gessen, was die Finsternis ist … und was das Licht.«
»Dann werde ich sterben«, antwortete der Kater bloß. »Aber ganz ehrlich, das habe ich nicht vor.«
»Das hatte Len auch nicht.«
Darauf wusste er nichts zu sagen.
»Und jetzt? Hängst du dich jetzt am Himmel an den Platz ihrer alten Sonne?«, fragte ich.
»Nein, Danka, wo denkst du hin? Dafür bin ich zu klein. Aber ich werde um ihre Welt herumfliegen. Das entspricht nicht ganz ihrer Sonne … ist aber immerhin etwas.«
»Du bist schon großartig«, meinte ich. »Das hast du gut geplant. Geh jetzt und iss dich satt.«
Über uns schlugen leise Flügel. Ich hob nicht mal den Kopf, um mich zu vergewissern, ob es ein Flügelträger war – oder nicht doch ein Freiflieger.
»Was ist dein größter Wunsch, Danka?«, wollte der Kater plötzlich wissen.
»Ich will nach Hause.«
»Ich werde dir dabei helfen.«
»Wirklich?« Ich sah den Kater an. »Und wie?«
»Wenn ich erst mal die Sonne bin, Danka, wird mir nicht mehr da r an gelegen sein, dir zu helfen. Das wird mir zu klein, zu belanglos erscheinen. Verzeih mir.«
»Ist schon okay.« Ob ich wollte oder nicht, ich musste grinsen. Mir fiel wieder ein, wie ich den Kater in den Armen gehalten hatte und er vor Hunger beinahe gestorben wäre. Wie klein er damals gewesen war und wie unglücklich. Und wie ich geweint hatte, weil ich nicht wusste, wie ich ihn retten konnte.
»Mir wird nur ein winziger Augenblick zur Verfügung stehen«, fuhr der Kater mit ernster Miene fort. Wenn er meine Gedanken gelesen hatte, verriet er das durch nichts. »Ein Moment, in dem ich bereits ein Wahrer Zauberer bin, mich aber auch noch an unsere Freundschaft erinnere. In diesem Moment kann ich dir jeden Wunsch erfüllen.«
»Soll ich ihn dir verraten?«, fragte ich ganz leise.
»Das brauchst du nicht, Danka. Denn ich erfülle deinen Wahren Wunsch. Nicht das, worum du bittest, sondern das, was du wirklich willst.«
Ich schaute zu Len hinüber. Die Finsternis war ganz aus seinem G e sicht verschwunden. Er sah wieder genauso aus wie früher, ein ganz normaler Junge mit blasser Haut. Len hätte mir meinen Wunsch ve r ziehen. Und ich? Würde ich mir auch verzeihen?
»Und was will ich, Kater?«
»Viel«, sagte der Kater nach kurzem Zögern. »Dass Len nicht tot ist, dass du das Wahre Schwert wieder in Händen hältst, dass ich nicht fortgehe, dass die Sonne scheint. Aber mehr als alles andere willst du offenbar zurück nach Hause.«
»Dann geh«, forderte ich ihn auf.
Als hätte der Kater nur auf diese Worte gewartet, rannte er die We n deltreppe hinunter. Einen Moment lang hörte ich noch das Trappeln seiner Pfoten,
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