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Der Herr der Finsternis

Der Herr der Finsternis

Titel: Der Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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»Weg hier, Len!«, brüllte ich, obwohl ich davon überzeugt war, dass es für uns zu spät war.
    Ich schubste ihn zu dem Loch in der Mauer. Viel Kraft brauchte ich dafür nicht, denn inzwischen hatte sich der Turm stark geneigt und war kurz vorm Einstürzen. Als ich sah, dass Len zögerte, weil er nicht begriff, was hier vor sich ging, gab ich ihm einen Tritt in den Hintern. Er taumelte und fiel in die Tiefe. Dann sprang ich selbst. Im Fallen breitete ich die Flügel aus.
    Der Turm hatte anscheinend nur auf diesen Moment gewartet. Die oberen Stockwerke brachen ab und segelten sanft nach unten, wobei sie sich noch in der Luft in einzelne Steinblöcke auflösten. Dann knickte der Turm in der Mitte ein, genau an der Stelle, wo die Mauer fehlte. Ich sah, wie Len, der etwas unter mir flog, die Flügel spreizte. Vor dem leuchtenden Untergrund hob sich seine Silhouette klar wie eine Zeichnung ab. Als der Steinregen auf uns einprasselte, wusste ich, dass wir ihm nicht entkommen konnten.
    In diesem Moment spaltete sich unter uns der Boden und eine Sonne stieg auf.
    Sie erinnerte überhaupt nicht mehr an den Kater. Es war eine ganz normale Sonne! Okay, sie war ziemlich klein, hatte vielleicht nur e i nen Durchmesser von rund zwei Kilometern und wirkte etwas pusch e lig. Wir fielen direkt in sie hinein.
    Die schwarzen Steine, aus denen der Turm erbaut war, loderten auf und zerfielen zu Staub. Wir dagegen schwebten einfach durch die Sonne hindurch wie zwei Staubkörner durch einen gigantischen So n nenstrahl.
    Ich spürte nichts als Wärme. Na ja, ich hatte auch noch den Ei n druck, eine raue Zunge würde mir über die Wange lecken. Aber vie l leicht täuschte ich mich da auch.
    Drei Kilometer vom Turm entfernt landeten wir. Da existierte der Turm allerdings schon gar nicht mehr. Nur eine riesige Staubwolke hing noch in der Luft. Am Himmel strahlte die Sonne, die auf ihrem Weg zum Zenit war. Momentan wirkte sie etwas zu groß, aber natü r lich würde der Kater in eine solche Höhe aufsteigen, dass sie wie eine echte Sonne aussah. Dann würde er um diese Welt kreisen. So lange, wie ihn alle liebten.
    Ich stand da, betrachtete die Sonne und weinte. Len kam mit ang e legten Flügeln zu mir.
    »Man darf doch nicht in die Sonne schauen, Danka«, brachte er za g haft hervor.
    »Doch«, flüsterte ich, nachdem ich den Kloß in meinem Hals ru n tergeschluckt hatte. »Doch, Len, in die schon. Das ist unser Kater.«
    Wir blieben so lange stehen, bis die Sonne wie eine echte aussah. Das heißt natürlich: wie eine Sonne von der Art, wie ich sie kannte.
    »Was ist denn mit mir los gewesen, Danka?«, fragte Len.
    »Die Trümmer haben uns unter sich begraben«, log ich. »Der Kater hat uns dann gerettet. Danach ist er zu einer Sonne für deine Welt g e worden.«
    »Ach ja, wir waren verschüttet«, meinte Len, wenn auch nicht ger a de überzeugt. Er betastete seinen an der Brust aufgerissenen Flüge l overall, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
    »Jetzt werdet ihr erleben, wie die Sonne auf- und untergeht«, sagte ich zu Len. »Und nachts könnt ihr Sterne sehen, das sind die Sonnen der anderen Welten. Dann gibt es noch den Regenbogen und … und … «
    Ich musste schon wieder weinen. Len nahm mich in den Arm.
    »Sag mal, Danka«, meinte er, »habe ich mir das nur eingebildet oder ist die letzte Verborgene Tür in deine Welt … «
    »Sie war im Turm.«
    »Und was willst du jetzt machen?«
    Ich sagte kein Wort.
    »Und der Kater? Konnte er dich nicht nach Hause bringen, bevor er sich in die Sonne verwandelt hat?«
    Auch diesmal gab ich keine Antwort.
    »Ich … ich danke dir.«
    »Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß«, blaffte ich ihn an, wobei ich spürte, wie die Leere in meiner Brust schmolz, und zwar völlig, bis auf den letzten Rest. An ihre Stelle trat Licht. Oder Wärme. »Du an meiner Stelle hättest dasselbe getan.«
    »Und wer war dein Wahrer Feind, Danka?«
    »Frag mich das nicht, ja?«
    »Okay. Wollen wir gehen?«
    »Warum gehen? Wir fliegen.«
    Ich breitete die Flügel aus. Die armen Dinger hatten ordentlich was abgekriegt! Vom heißen Boden stieg Wind auf, den ich abpasste, ohne vorher mit dem Wahren Blick hinzusehen. Len folgte mir. Wir stiegen immer höher, ohne ein Wort zu sagen, immer weiter nach oben, als wollten wir den Kater einfangen, um uns von ihm zu verabschieden oder ihm einfach für alles zu danken. Doch als die Landschaft tief unter uns wie ein bunter, wenn auch etwas düsterer Teppich dalag – nämlich

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