Der Herr der Habichts - Insel
zog sie an sich. »Du hast recht«, sagte er, packte ihr Hemd und riß es an der Schulter auf. »Wenn man deine Leiche findet, wird jeder denken, das Meer hat dir die Kleider fortgerissen. Vielleicht fressen dich sogar die Fische auf.«
Es waren keine zehn Meter bis zum Abgrund. Er zerrte sie weiter, und sie verlor vor Angst beinahe den Verstand. Da sah sie plötzlich einen Stein vor sich liegen. Sie bückte sich danach und schrie erneut Roriks Namen.
Der Abgrund kam immer näher. Sie hielt den Stein fest umklammert, sammelte ihre Kräfte und sagte dann flehend: »Gurd«, und wartete, bis er sich umdrehte.
Noch in seiner Drehung hob sie den Stein und schlug ihn mit aller Kraft gegen seine Schläfe. Er blieb stehen, und ohne sie loszulassen, starrte er sie schweigend an.
»Laß mich los!« schrie sie ihm ins Gesicht. »Ich habe dich getroffen! Stirb, verflucht!«
Doch er lächelte nur und zog sie einen weiteren Schritt zum Abgrund hin. Mit einem Schrei schlug sie ihm den Stein erneut gegen die Schläfe. Diesmal quoll Blut aus seinem Kopf. Er blieb stehen und schwankte ein wenig.
Endlich ließ er ihr Handgelenk los. Aber er fiel nicht um, sondern blieb stehen. Blut rieselte über seine Stirn, in seine Augen, tropfte ihm auf die Brust, tropfte auf die Erde — aber es schien ihn nicht zu stören.
Da warf Mirana ihm den Stein gegen die Brust, drehte sich um rannte um ihr Leben.
In diesem Augenblick tauchte Rorik aus dem Wald auf, und hinter ihm Hafter und Sculla. Er sah seine Frau, und dann sah er Gurd nahe dem Abgrund.
»Mirana!«
Er zog sie an sich, sah, daß sie unversehrt war, und übergab sie Hafter. Er ging auf Gurd zu, der sich der untergehenden Sonne zugewandt hatte und reglos in den Himmel starrte. Blut strömte ihm übers Gesicht und tropfte auf den felsigen Grund.
»Gurd!«
Langsam drehte dieser sich um und blickte Rorik entgegen.
»Es tut mir leid, Rorik. Ich mußte es tun. Ich mußte sie töten. Dort unten liegt sie auf den Felsen zerschmettert. Ich wollte sie erdrosseln, aber es sollte wie ein Unfall aussehen. Dort unten liegt sie nun, Rorik. Sie hat Asta umgebracht. Jetzt ist meine Asta gerächt.«
Rorik sah den Mann, den er sein Leben lang kannte, verständnislos an. Er stand da mit hängenden Schultern und Armen.
»Gurd. Ich verstehe dich nicht.«
Gurd hob den Kopf und starrte Rorik an. Dann sah er Mirana im Hintergrund neben Hafter stehen. Seine Augen weiteten sich. »Wieso steht sie dort?« fragte er. »Sie ist tot. Ich habe sie in den Abgrund geworfen. Ich habe ihre Schreie gehört. Ich habe den Aufschlag ihres Körpers gehört.«
Dann stieß er einen markerschütternden Schrei in den Himmel. Im nächsten Augenblick stürzte er sich auf Rorik, warf seine mächtigen Arme um seinen Brustkasten, drückte zu und hob Rorik vom Boden hoch. Rorik war größer, doch Gurd war der Stärkere.
»Rorik!«
Hafter und Sculla stürzten sich auf Gurd, jeder riß an einem Arm, jedoch ohne jeden Erfolg.
Rorik spürte, wie es dunkel um ihn wurde und er kaum noch den unbeschreiblichen Schmerz seiner gequetschten Rippen spürte. Gleichzeitig war es ihm, als entferne er sich von dem Mann, dem der Brustkasten zermalmt wurde.
Instinktiv nahm er Gurds Kopf zwischen die Hände und drückte mit aller Kraft zu. Aber Gurd zeigte keine Reaktion. Mit dem letzten zusammenhängenden Gedanken, den er zu fassen vermochte, ballte Rorik die Hände zu Fäusten, bog die Arme weit auseinander und schlug beide Fäuste gegen Gurds Ohren.
Gurd schrie auf und seine Arme lösten sich von Rorik. Gurd taumelte, schrie, heulte und riß Hafter und Sculla mit sich auf die Erde. Blut floß ihm aus beiden Ohren und vermischte sich mit dem aus seiner Kopfwunde. Rorik stand über ihm, in seinem Brustkorb loderte ein brennender Schmerz, und sein Kopf war vom Luftmangel benommen. Ächzend und nach Luft ringend blickte er auf den Mann, der Mirana und ihn beinahe getötet hätte.
Mirana näherte sich langsam, den Blick auf Gurd geheftet, der sich wimmernd und schluchzend wie ein Kind auf der Erde wälzte. Hafter und Sculla traten einen Schritt zurück. Im gleichen Augenblick schnellte Gurd nach vorn, fiel auf die Knie, dann aufs Gesicht, und dann rollte er über den Rand der Klippe in den Abgrund.
Er gab keinen Laut von sich. Nur das Tosen der Brandung gegen die Felsen in der Tiefe war noch zu hören.
Rorik zog Mirana an sich, küßte sie und ging mit ihr zum Gehöft zurück.
EPILOG
Der Skalde Tamak, berühmt für seine poetischen
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