Der Herr der Ringe
das Gesicht auf den Boden gedrückt.
»Nun, Théoden, Thengels Sohn, wollt Ihr mich anhören?«, fragte Gandalf. »Erbittet Ihr Hilfe?« Er hob seinen Stab und zeigte auf ein hohes Fenster. Dort schien sich die Dunkelheit aufzuklären, und durch die Öffnung war, hoch und fern, ein Stückchen des strahlenden Himmels zu sehen. »Nicht alles ist dunkel. Fasst Mut, Herr der Mark; denn bessere Hilfe werdet Ihr nicht finden. Keinen Rat habe ich denen zu geben, die verzweifeln. Doch Rat könnte ich geben, und Botschaften könnte ich Euch übermitteln. Wollt Ihr sie hören? Sie ist nicht für alle Ohren. Ich bitte Euch, kommt hinaus vor Eure Tür und schaut Euch um. Zu lange habt Ihr im Schatten gesessen und entstellten Berichten und verlogenen Einflüsterungen vertraut.«
Langsam erhob sich Théoden von seinem Sessel. Ein schwaches Licht verbreitete sich wieder in der Halle. Die Frau eilte an des Königs Seite und nahm seinen Arm, und mit taumelnden Schritten stieg der alte Mann von dem erhöhten Sitz herab und ging durch die Halle. Schlangenzunge blieb auf dem Boden liegen. Sie kamen zur Tür, und Gandalf klopfte.
»Öffnet!«, rief er. »Der Herr der Mark kommt heraus!«
Die Türen öffneten sich, und ein frischer Luftzug blies herein. Ein Wind wehte auf dem Berg.
»Schickt Eure Wächter hinunter zur Treppe«, sagte Gandalf. »Und Ihr, Herrin, lasst mich eine Weile mit ihm allein. Ich will für ihn sorgen.«
»Geh, Éowyn, Schwestertochter«, sagte der alte König. »Die Zeit der Furcht ist vorbei.«
Die Frau ging langsam zurück ins Haus. Als sie zur Tür kam, wandte sie sich um und schaute zurück. Ernst und fürsorglich war ihr Blick, als sie denKönig voller Mitleid ansah. Sehr schön war ihr Gesicht, und ihr langes Haar war wie eine Flut von Gold. Schlank und groß war sie in ihrem weißen Gewand mit dem silbernen Gürtel; doch stark schien sie zu sein, und hart wie Stahl, eine Tochter von Königen. So erblickte Aragorn zum ersten Mal im hellen Licht des Tages Éowyn, die Herrin von Rohan, und fand sie schön, schön und kalt wie ein Morgen im bleichen Frühling, noch nicht zur Fraulichkeit gereift. Und sie wurde plötzlich seiner gewahr: des kühnen Erben von Königen, weise nach vielen Wintern, grau gekleidet und eine Macht verbergend, die sie dennoch spürte. Einen Augenblick stand sie reglos wie ein Stein, dann wandte sie sich rasch um und ging hinein.
»Nun, Herr«, sagte Gandalf, »schaut auf Euer Land! Atmet wieder die frische Luft!«
Von dem hohen Söller auf dem hohen Bergsattel sahen sie jenseits des Stroms die grünen Weiden von Rohan in der grauen Ebene verblassen. Vorhänge von windgetriebenem Regen sanken schräg herab. Der Himmel über ihnen und im Westen war noch dunkel vom Gewitter, und in weiter Ferne flackerten Blitze zwischen den Gipfeln verborgener Berge. Doch hatte der Wind auf Nord gedreht, und schon ließ der Sturm nach, der aus dem Osten gekommen war, und verzog sich nach Süden zum Meer. Plötzlich brach durch einen Wolkenspalt ein Sonnenstrahl. Die herabströmenden Regenschauer glänzten wie Silber, und in der Ferne glitzerte der Fluss wie ein schimmerndes Glas.
»Es ist nicht so dunkel hier«, sagte Théoden.
»Nein«, sagte Gandalf. »Und auch das Alter liegt nicht so schwer auf Euren Schultern, wie manche Euch glauben machen. Werft Eure Stütze fort!«
Aus des Königs Hand fiel der schwarze Stab klappernd auf die Steine. Er richtete sich auf, langsam, wie ein Mann, der steif geworden ist, nachdem er sich lange über eine mühselige Arbeit gebeugt hatte. Jetzt stand er stolz und aufrecht da, und seine Augen waren blau, als er in den sich öffnenden Himmel blickte.
»Dunkel waren meine Träume in letzter Zeit«, sagte er, »aber ich fühle mich wie neu belebt. Jetzt wünschte ich, Ihr wäret früher gekommen, Gandalf. Denn ich fürchte, Ihr seid schon zu spät gekommen und werdet nur die letzten Tage meines Hauses sehen. Nicht lange mehr wird die hohe Halle stehen, die Brego, Eorls Sohn, gebaut hat. Feuer wird den Thron verzehren. Was ist zu tun?«
»Viel«, sagte Gandalf. »Doch zuerst schickt nach Éomer. Vermute ich nicht mit Recht, dass Ihr ihn gefangen haltet, auf Rat von Gríma, den alle außer Euch die Schlangenzunge nennen?«
»Das stimmt«, sagte Théoden. »Er hatte sich gegen meine Befehle aufgelehnt und Gríma in meiner Halle mit dem Tode bedroht.«
»Ein Mann mag Euch lieben und dennoch Schlangenzunge oder seine Ratschläge nicht lieben«, sagte
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