Der Herr der Ringe
Nordmark geschah, an Euch, Frodo, zweifle ich nicht länger. Wenn harte Zeiten mir die Fähigkeit gegeben haben, Worte und Taten von Menschen zu beurteilen, dann mag ich auch Halblinge richtig einschätzen! Allerdings«, und jetzt lächelte er, »habt Ihr etwas Seltsames an Euch, Frodo, vielleicht eine elbische Art. Doch mehr hängt von unseren Worten ab, die wir miteinander sprechen, als ich zuerst glaubte. Ich sollte Euch mit zurück nach Minas Tirith nehmen, damit Ihr vor Denethor Rede und Antwort steht, und mein Leben wird zu Recht verwirkt sein, wenn ich jetzt einen Weg einschlage, der sich für meine Stadt als schlecht erweist. Deshalb will ich nicht hastig entscheiden, was geschehen soll. Indes müssen wir ohne Verzögerung von hier aufbrechen.«
Er sprang auf und gab einige Befehle. Sofort verteilten sich die Männer, die im Kreis um ihn gesessen hatten, in kleine Gruppen, die einen gingen hierhin, die anderen dorthin, und rasch verschwanden sie in den Schatten der Felsen und Bäume. Bald waren nur Mablung und Damrod zurückgeblieben.
»Nun werdet ihr, Frodo und Samweis, mit mir und meinen Leibwächtern mitkommen«, sagte Faramir. »Auf der Straße könnt ihr nicht nach Süden weitergehen, wenn das eure Absicht war. Sie wird einige Tage lang unsicher sein und nach diesem Handgemenge noch schärfer beobachtet werden als bisher. Und heute, glaube ich, könnt ihr sowieso nicht mehr weit gehen, denn ihr seid müde. Und wir auch. Wir gehen jetzt zu einem unserer geheimen Verstecke, etwas weniger als zehn Meilen von hier. Die Orks und Späher des Feindes haben es noch nicht gefunden, und wenn sie es täten, könnten wir den Ort lange gegen viele halten. Dort können wir eine Weile rasten und uns ausruhen, und ihr mit uns. Am Morgen werde ich dann entscheiden, was für mich das Beste zu tun ist, und für euch.«
Frodo blieb nichts anderes übrig, als diesem Begehren zu entsprechen. Es schien jedenfalls im Augenblick ein kluges Vorgehen zu sein, denn durch diesen Überfall der Menschen von Gondor war eine Wanderung in Ithilien gefährlicher denn je geworden.
Sie machten sich sofort auf den Weg: Mablung und Damrod gingen ein Stück voraus, und Faramir folgte mit Frodo und Sam. Sie hielten sich diesseits des Teichs, in dem die Hobbits gebadet hatten, überquerten den Bach, erklommen eine lange Böschung und verschwanden in dem grünschattigen Waldland, das sich abwärts und nach Westen hin zog. Während sie gingen, so rasch, wie die Hobbits konnten, unterhielten sie sich leise.
»Ich habe unsere Unterhaltung abgebrochen«, sagte Faramir, »und zwar nicht nur, weil die Zeit drängte, woran mich Meister Samweis erinnerte, sondern auch deshalb, weil wir auf Dinge kamen, die besser nicht offen vor vielen Menschen erörtert werden. Aus diesem Grunde wandte ich mich lieber der Angelegenheit meines Bruders zu und ließ Isildurs Fluch beiseite. Ihr wart nicht völlig aufrichtig mit mir, Frodo.«
»Ich habe nicht gelogen und von der Wahrheit alles gesagt, was ich konnte«, erwiderte Frodo.
»Ich mache Euch keinen Vorwurf«, sagte Faramir. »Ihr spracht gewandt in einer schwierigen Lage, und klug, wie mir schien. Aber ich erfuhr oder erriet mehr von Euch, als Eure Worte sagten. Ihr wart Boromir nicht freundlich gesinnt oder trenntet Euch nicht in Freundschaft. Ihr und auch Meister Samweis hegtet irgendeinen Groll. Nun, ich liebte ihn sehr und würde seinen Tod gern rächen, dennoch kannte ich ihn gut. Isildurs Fluch – ich würde mutmaßen, dass Isildurs Fluch zwischen Euch stand und der Anlass zum Hader in Eurer Gemeinschaft war. Gewiss handelt es sich dabei um ein wichtiges Erbstück irgendeiner Art, und derlei Dinge stiften keinen Frieden unter Verbündeten, nicht, wenn aus alten Erzählungen etwas gelernt werden kann. Treffe ich nicht fast ins Schwarze?«
»Fast«, sagte Frodo, »aber nicht ganz. Es gab keinen Hader in unserer Gemeinschaft, obwohl Zweifel bestanden: Zweifel, welchen Weg wir vom Emyn Muil aus einschlagen sollten. Aber das mag sein, wie es wolle: Alte Erzählungen lehren uns auch die Gefahr unbesonnener Worte über solche Dinge wie – Erbstücke.«
»Ah, dann ist es so, wie ich es mir dachte: Ihr hattet allein mit Boromir Verdruss. Er wollte, dass dieses Ding nach Minas Tirith gebracht werde. O weh! Es ist ein böses Schicksal, das Euch, der Ihr ihn zuletzt sahet, die Lippen verschließt und mir vorenthält, was ich erfahren möchte: Was bewegte sein Herz und seine Gedanken in seinen letzten
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