Der Herr der Ringe
Stunden? Ob er fehlging oder nicht, dessen bin ich sicher: Er starb gut und vollbrachte etwas Gutes. Sein Gesicht war sogar schöner als im Leben.
Aber, Frodo, ich bedrängte Euch zuerst schwer wegen Isildurs Fluch. Verzeiht mir! Es war unklug zu solcher Stunde und an solchem Ort. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Wir hatten eine schwere Schlacht geschlagen, und es gab mehr als genug, was meinen Geist beschäftigte. Doch während ich noch mit Euch sprach, kam ich dem Ziel näher und schoss deshalb absichtlich daneben. Denn Ihr müsst wissen, dass vieles noch bewahrt ist vom alten Wissen unter den Herrschern der Stadt, was im Ausland nicht bekannt ist. Wir von meinem Haus stammen nicht von Elendil ab, obwohl das Blut von Númenor in unseren Adern fließt. Denn unsere Linie geht zurück auf Mardil, den guten Truchsess, der an des Königs statt herrschte, als der König in den Krieg zog. Und das war König Earnur, der Letzte der Linie vonAnárion, und er war kinderlos und kehrte nicht zurück. Und die Truchsesse haben seit jenem Tag in der Stadt geherrscht, obwohl es vor vielen Menschenaltern war.
Und ich erinnere mich, wie es Boromir, als er ein Knabe war und wir zusammen die Vergangenheit unserer Vorfahren und die Geschichte unserer Stadt lernten, immer missfiel, dass sein Vater kein König war. ›Wie viele hundert Jahre braucht es, bis ein Truchsess König wird, wenn der König nicht zurückkehrt?‹, fragte er. ›Wenige Jahre vielleicht an anderen Orten mit einer geringeren Königswürde‹, antwortete mein Vater. ›In Gondor würden zehntausend Jahre nicht reichen.‹ O wehe, der arme Boromir. Verrät Euch das nicht etwas über ihn?«
»Ja, das tut es«, sagte Frodo. »Dennoch behandelte er Aragorn immer mit Ehrerbietung.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Faramir. »Wenn er überzeugt war von Aragorns Anspruch, wie Ihr sagt, dann verehrte er ihn gewiss sehr. Aber der Ernstfall war noch nicht eingetreten. Noch waren sie nicht nach Minas Tirith gekommen oder Nebenbuhler in den Kriegen von Minas Tirith geworden.
Doch schweife ich ab. Wir im Hause von Denethor besitzen viel altes Wissen aus langer Überlieferung, und viele Dinge sind überdies in unseren Schatzkammern aufbewahrt: Bücher und Tafeln, auf vergilbtes Pergament geschrieben, ja sogar auf Stein und auf Blättern von Gold und Silber in verschiedener Schrift. Manche kann heute niemand mehr lesen; und im Übrigen schlagen nur wenige sie jemals auf. Ich vermag ein wenig darin zu lesen, denn ich habe Unterricht gehabt. Wegen dieser Aufzeichnungen kam der Graue Pilger zu uns. Ich sah ihn zuerst, als ich ein Kind war, und seitdem ist er zwei- oder dreimal da gewesen.«
»Der Graue Pilger?«, fragte Frodo. »Hatte er einen Namen?«
»Mithrandir nannten wir ihn nach Elbenart«, sagte Faramir, »und er war es zufrieden. Viele Namen habe ich in vielen Ländern, sagte er. Mithrandir heiße ich bei den Elben, Tharkûn bei den Zwergen; Olórin war ich in meiner Jugend im Westen, der vergessen ist, im Süden Incánus, im Norden Gandalf; in den Osten gehe ich nicht.«
»Gandalf!«, sagte Frodo. »Ich dachte mir schon, dass er es sei. Gandalf der Graue, der teuerste aller Ratgeber. Der Führer unserer Gemeinschaft. Er ist in Moria umgekommen.«
»Mithrandir ist umgekommen!«, sagte Faramir. »Ein böses Schicksal scheint Eure Gemeinschaft verfolgt zu haben. Es ist wahrlich schwer zu glauben, dass einer mit so viel Weisheit und Macht – denn viele wundervolle Dinge hat er unter uns getan – sterben und so viel Wissen der Welt verlorengehen soll. Seid Ihr dessen sicher und hat er Euch nicht einfach verlassen und ist dorthin gegangen, wohin er wollte?«
»Leider nicht«, sagte Frodo. »Ich sah ihn in den Abgrund stürzen.«
»Ich begreife, dass es dabei irgendeine große Geschichte des Schreckens gibt«, sagte Faramir, »die Ihr mir vielleicht des Abends erzählt. Mithrandir war, wie ich jetzt vermute, mehr als ein Gelehrter: ein großer Urheber von Taten, die in unserer Zeit geschehen. Hätte er unter uns geweilt, um uns über die schwierigen Worte unseres Traums zu beraten, dann hätte er sie uns erklären können, ohne dass es nötig gewesen wäre, einen Boten zu entsenden. Indes würde er es vielleicht nicht getan haben, und Boromirs Reise war vom Schicksal gewollt. Mithrandir sprach niemals zu uns von zukünftigen Dingen, noch enthüllte er seine Absichten. Er erhielt Erlaubnis von Denethor, wie, weiß ich nicht, sich die Geheimnisse unserer
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