Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
Vom Netzwerk:
herbstlich gefärbten Bäumen. Wohin sollte er sich wenden? Er fragte sich kurz, ob er es mit allen drei Verfolgern aufnehmen konnte, um dieser Bedrohung hier und heute ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Der Gedanke war verlockend – wenn er Erfolg hatte, würde niemand mehr ihn daran hindern zu tun, was immer er wünschte, und das für den Rest der Zeit, wie lange das auch sein mochte.
    Instinkte der Selbsterhaltung erstickten die Fantasie. Sosehr er sich selbst bewunderte, waren seine Feinde Ehr-
furcht gebietend und zu respektieren. Er musste fliehen und irgendeinen Ort finden, wo er sich lange genug verstecken konnte, um einen Fadengang anzutreten. Er beschloss, die Stadt nach Süden zu verlassen, auf dem Weg, den er gekommen war, wo Wald und Höhlen gute Verstecke bieten würden.
    »Despirrow!«
    Das Brüllen holte ihn in der Seitenstraße ein. Er spürte eine Kälte des Zorns darin. Braston würde ihn immer am meisten hassen, denn sie waren einst Freunde gewesen. Nach der Verwandlung waren sie zusammen zur Burg Althala zurückgekehrt, und Despirrow hatte gedacht, er könnte sein neues Ich vor dem König verbergen und all den braven, hochnäsigen Edelfrauen seinen Willen aufzwingen, Frauen, die bisher seine Annäherungsversuche zurückgewiesen hatten. Er brauchte nicht einmal die Zeit anzuhalten, um sie zu vergewaltigen – er musste lediglich dafür sorgen, dass sie irgendwo ungestört blieben, und sie anschließend töten oder ihren Geist verwirren, bis sie kein vernünftiges Wort mehr herausbrachten. Er hatte jedoch nicht mit Brastons neuem Talent gerechnet, die Linien des Unrechts zu sehen, die von seinen Opfern ausgingen. So hatte der König bald begriffen, welch finstere Wendung es mit seinem alten Hoffadenwirker genommen hatte.
    »Kannst du mich noch einmal einfangen, König?«, rief er über seine Schulter.
    Das Gebrüll, das ihm antwortete, war jetzt näher.
    Vorsichtig manipulierte Despirrow die Luft und ließ eine Brise aufkommen.
    Sie wirbelte hinter ihm das Laub auf, das bereits von den Bäumen gefallen war.
    Rostigan wurde in Yalennas Kielwasser allmählich schneller. Die Verletzungen, die er sich unter den Füßen der Menge zugezogen hatte, heilten nach und nach, und seine Willenskraft überwand den Rest. Der Schmerz in seiner Hand war am schlimmsten und würde wahrscheinlich einige Tage anhalten, bis sie restlos verheilt war, aber solange er seine Beine hatte, konnte er laufen.
    Vor ihm jagte Yalenna flink und anmutig dahin, und noch weiter voraus bog Braston in eine Seitengasse ein. Als Rostigan die Gasse erreichte, sah er bald, dass die Bäume entlang der Straße sich leicht im Wind wiegten. Einige der Blätter fielen, aber hinter dem fliehenden Despirrow waren so viele Blätter in der Luft, als habe er das Laub hinter sich aufgewirbelt.
    Rostigan begriff, was gleich geschehen würde.
    »Yalenna«, versuchte er zu rufen, aber er war außer Atem. Er streckte die Hände aus und versuchte, ihre Stiefel unter Kontrolle zu bekommen, und sofort machte sie seinen Einfluss ungeschehen. Sie stolperte jedoch ein wenig, drehte sich für einen Moment zu ihm um und lief rückwärts weiter.
    »Was?«
    »Halt«, keuchte er.
    Braston hetzte in atemberaubendem Tempo über das Pflaster, die Augen starr auf seinen fliehenden Gegner gerichtet. Spöttisches Gekicher hallte von den Gebäuden wider und heizte seinen Zorn noch weiter an. Despirrow durfte nicht entkommen, seine bloße Existenz war eine höhnische Beleidigung der Welt – eine schwere Ungerechtigkeit. Da war nichts mehr übrig von der Person, die Brastons Freund gewesen war, das vertraute Gesicht nichts als eine Illusion, um die Verderbtheit zu verdecken, die ihn jetzt ergriffen hatte. Braston jagte Zauber hinter dem Mann her, aber jeder einzelne wurde geschickt entfädelt, bevor er ihn erreichte. Despirrow war der bessere Zauberer, Brastons Domäne war die pure Kraft. Wenn er die kleine Ratte nur in die Hände bekam, konnte er sie brechen wie einen Zweig …
    Ein Blatt schlug Braston gegen die Stirn, und geistesabwesend wischte er es weg. Wie Despirrow aufhalten, wie nahe genug herankommen, um ihn zu packen? Vielleicht konnte er den Wind benutzen, der die Straße entlangpfiff, konnte ihn kanalisieren, um Despirrow zu bremsen. Als er jedoch ausgriff, um die Brise nutzbar zu machen, begriff er, dass es keine natürliche war.
    Die Zeit erstarrte.
    Blätter hingen überall in der Luft, starre Hindernisse, nicht viel dicker als die Schneide eines

Weitere Kostenlose Bücher