Der Herr der Tränen
die vor ihrer aller Verwandlung keine Seltenheit gewesen war, kam jetzt unerwartet und wirkte fremd. Ihm fiel die Sorge in ihrem Gesicht auf. Sorge um ihn?
Er erinnerte sich daran, dass sie ihm einmal die Schulter bandagiert hatte, ein oder zwei Tage nachdem sie zu den Roshausgipfeln aufgebrochen waren. Zwei Seidenrachen hatten sie angegriffen, und einer davon hatte ihm mit der Flügelspitze einen abscheulichen Schnitt zugefügt. Keiner in der Gruppe war ein übermäßig begabter Heiler – daran hatte Mergan bei der Zusammenstellung ihrer Gruppe wohl nicht gedacht –, und doch hatte Yalenna getan, was sie konnte, um ihm zu helfen. Mit sanften, aber energischen Händen hatte sie ihn verbunden und ihm einige kleine Ermahnungen gegeben, dass er beim nächsten Mal die Augen offenhalten solle. Und während sie das tat, hatte sie gelächelt, denn sie wussten beide, dass er derjenige gewesen war, der vor der Gefahr gewarnt hatte, und es ihnen allen wesentlich schlechter ergangen wäre, wenn er es nicht getan hätte …
»Geht es dir gut?«, riss sie ihn aus seiner Tagträumerei.
»Es wird mir wieder gut gehen.«
Sie schob eine Hand unter seinen Arm, um ihn zu stützen. »Wir müssen zu Braston zurück.«
Nach einigen Schritten hatte er das Gefühl, dass ihre Unterstützung tatsächlich eher ein Hindernis als eine Hilfe war. Er löste sich behutsam von ihr und zwang sich, das Tempo zu beschleunigen.
»Ich habe mein Schwert verloren«, murmelte er, beinahe verlegen.
Nicht zum ersten Mal, kam eine Regung von dem tiefen Ort. Wie viele Schwerter hatte er im Laufe der Jahre verschlissen? Genug, um nicht mehr übermäßig sentimental in Bezug auf ein bestimmtes zu sein.
Zurück in Saphura trafen sie auf rege Betriebsamkeit. Die Morde auf offener Straße hatten die Bevölkerung erschüttert, und Menschen gestikulierten aufgeregt, während sie den Wachen Bericht erstatteten. Plötzlich bebte die Erde, und entlang der Hauptstraße klaffte ein großer, gezackter Riss auf, der mehrfach die Ladenfronten kreuzte.
Unter schrecklichem Grollen und Rumpeln, von entsetzten Schreien begleitet, verschwanden mehrere Häuser.
»Wind und Feuer«, stöhnte Yalenna.
»Die Verderbnis breitet sich aus«, bemerkte Rostigan.
»Es ist so ärgerlich! Despirrow benutzt seine Kräfte so schamlos. Gewiss hat das Aufhalten der Zeit überall in Aorn einen gewaltigen Druck auf die Große Magie ausgeübt – Fäden, die sich bewegen sollten, sind erstarrt.«
»Ja«, stimmte Rostigan zu. »Ärgerlich.«
»Und bei den Gezeiten, es schert ihn keinen Deut! Oh, wie sehr ich mir wünschte, wir hätten ihn getötet. Verflucht soll er sein, der schlüpfrige Aal!«
Rostigan sprach den Gedanken nicht aus, dass es nicht allein Despirrow war, den die Schuld traf. Er wusste, dass Yalenna das nur allzu gut verstand – sie war einfach frustriert.
So schnell er erschienen war, schloss sich der Riss mit einem Rumpeln wieder, ohne auch nur eine klar erkennbare Linie zu hinterlassen. Wenig Trost für die Besitzer der eingestürzten Gebäude oder die Menschen, die die Erde verschluckt hatte.
In grüblerischem Schweigen gingen Rostigan und Yalenna zu Braston zurück. Sie fanden ihn bleich und zusammengesackt an einem der Bäume, deren Blätter ihn so übel zugerichtet hatten. Besorgte Menschen umringten ihn.
»Er braucht einen Heiler!«, sagte ein Mann. »Jemand soll einen Heiler holen!«
»Sie sind überall beschäftigt – im Augenblick braucht mehr als eine Person Heilung.«
»Wie kommt es, dass er überhaupt noch lebt?«
»Macht Platz«, befahl Yalenna. Obwohl sie mit sanfter Stimme sprach, drehten sich alle zu ihr um. Dann taten die Menschen in verwunderter Ehrerbietung, worum sie gebeten hatte. Obwohl sie nicht erraten konnten, wer sie war, wusste Rostigan, wie sie für sie aussehen musste – schön und engelsgleich, mit einer Haut, die beinahe Licht abzustrahlen schien; ihre Majestät war beinahe mit Händen zu greifen. Er begriff, dass er sie ganz einfach gern hatte, wie früher, obwohl sie doch so lange Feinde gewesen waren.
Sie kniete sich neben Braston und flüsterte ihm etwas zu. Das getrocknete Blut über seinen Augen bekam Risse, als er die Lider öffnete. Sein Mund zitterte, und er schien zu versuchen, eine Frage zu bilden.
»Er ist davongekommen«, sagte Yalenna, während sie ihm behutsam die Stirn streichelte. »Es tut mir leid.«
Braston schien in sich zusammenzusacken. Vielleicht war es aber eher so, dass das Leben aus ihm wich.
»Wir
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