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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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weinen mögen, wäre auch nur noch ein Tropfen Feuchtigkeit in ihm gewesen. Manchmal dachte er, er würde Markierungen auf den Wänden sehen, aber wenn er sie betrachtete, verblassten sie. Manchmal stellte er sich vor, dass die zerschmetterten Vasen wiederhergestellt wären und stolz dastünden, alle sechzehn.
    Vielleicht würde er jetzt gehen und sich seine kostbare Vase ansehen.
    Er schob sich über den Boden, strich mit den Fingern über die Kacheln. Wenn er einige weitere von ihnen zerbrach, würde er neu zählen können. Der Gedanke machte ihn zornig. Durch den Flur ging er, bis er etwa zehn Schritte vor sich die letzte Vase sah. Er seufzte, erleichtert über ihren Anblick, und sackte gegen die Wand.
    Im Licht, das von draußen durch den Eingang fiel, erschienen unruhige Schatten, als bewegte sich dort draußen etwas. Er glaubte, Stimmen zu hören, und grinste. Noch mehr geisterhafte Gesellschaft, noch mehr Illusionen. Er würde nicht an sie glauben, aber zumindest durchbrachen sie die Monotonie.
    Eine Gestalt trat in den Gang und tastete sich vor.
    Da ist sie wieder, dachte er. Was hat sie heute zu sagen?
    »Mergan?«, erklang ihre süße Stimme. »Wo bist du?«
    Immer hier, liebe Yalenna.
    Die Scherbe einer Vase zersprang unter ihrem Fuß. Und es war eine große Scherbe, eine der größten, die noch übrig waren. Sie stieß einen leisen Aufschrei aus, stolperte vorwärts und warf den Ständer um, auf dem die letzte Vase stand. Seine Augen weiteten sich, als sie fiel und sich ewig in der Luft zu drehen schien. Dann zerbarst sie auf dem Boden in hundert Stücke – oder vielleicht in hundertdrei?
    Nein, nein, sagte er sich und schlang sich die Arme um den Leib, sie ist nicht wirklich gefallen. Ist nicht wirklich gefallen, denn wenn sie wirklich gefallen wäre, wäre Yalenna hier. Ich habe noch immer meine Vase, meine kostbare letzte, sie ist immer noch da. Ich bilde mir nur ein, dass sie gefallen ist, aber sie ist nicht wirklich gefallen.
    »Alles in Ordnung?«
    Brastons Stimme, von irgendwo draußen.
    »Ja«, antwortete sie.
    Alles in Ordnung, lachte er. Meine Freunde sind hier, meine guten alten Freunde.
    Sie trat über die Trümmer und kam ein wenig näher, spähte in den düsteren Flur.
    »Ist da jemand?«, rief sie.
    Er stieß ein schwaches Krächzen aus, alles, was er aus seiner knochentrockenen Kehle hervorbringen konnte. Es spielte keine Rolle. In seinem Kopf gesprochene Worte waren so real wie die, die er von ihr hörte.
    Ja, ja, ich bin hier. Für den Rest der Zeit bin ich hier.
    Er lachte in sich hinein, zeichnete müßig die Kanten einer Kachel mit den Fingerspitzen nach. Es war eine gute – eine seiner Lieblingskacheln.
    Plötzlich stand Yalenna über ihm.
    Setz dich hin, sagte er gereizt. Rage da nicht so vor mir auf! Setz dich hin, und wir werden über alte Zeiten reden, wenn es das ist, was du wünschst.
    »Mergan?«
    Sie griff nach ihm, berührte seine Schulter. Die Illusionen berührten ihn niemals, sie berührten ihn nie! Er stieß ein ersticktes Keuchen aus.
    Nein, nein! Geistertränen formten sich hinter seinen Augen. Ich kann es nicht ertragen, berühre mich nicht! Es ist falsch!
    »Er ist hier!«, rief sie in den Gang.
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Tritt nicht über die Schwelle!«
    Er schob sich an der Wand hoch, während sie ihn voller Erstaunen und Entsetzen anstarrte.
    Geh weg, Pein!
    »Kannst du sprechen? Mergan, du musst mit mir kommen.«
    Wieder griff sie nach ihm, und er stieß einen leisen Ruf aus und versuchte, sich wegzudrehen. Es nutzte nichts – sie hielt ihn am Arm fest, und er war zu schwach, um sich zu widersetzen, nichts als Haut und Knochen.
    »Es tut mir leid, aber ich muss dich hier rausbringen.«
    Jetzt zerrte sie ihn hinter sich her, während er sich lahm zur Wehr setzte.
    Du wirst nicht die Oberhand über mich gewinnen, Geist! Ich glaube nicht an dich!
    Als sie den Ort passierten, wo die letzte Vase gestanden hatte, zwang er sie mit seiner Willenskraft, wieder auf dem Ständer zu erscheinen. Dann begriff er mit wachsender Verzweiflung, was wirklich geschehen war – in seinem Halluzinieren musste er sie zerschlagen haben! Sie war wirklich fort!
    Ein kaum hörbarer Laut teilte seine Lippen, und noch immer zerrte Yalenna an ihm, zog ihn über andere Scherben, die er sorgfältig zu Mustern arrangiert hatte.
    Nein, nein!
    Sie gingen auf die Tür zu, wo Braston stand, wo er die Fäden für sie von außen offenhielt.
    Es ist nicht wahr!
    Panik ergriff ihn, als Yalenna ihn

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