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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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nichts umsonst!«
    Tarzi kehrte mit zwei Stuhlbeinen zurück, deren jedes Ende einen dicken Flammenball trug. Dasjenige, das sie Rostigan reichte, verzierte eine Art von kariertem Tuch.
    »Das Hemd eines Toten«, erklärte sie, und ihre Augen waren ein klein wenig leer.
    »Gib auf deine Fackel acht«, sagte Rostigan und ging wieder auf die Straße, das Schwert in einer Hand, die Fackel in der anderen.
    Als er um eine Ecke bog, hatte er drei blutbespritzte Seidenrachen vor sich, die jemanden wie zankende Seemöwen in Stücke rissen. Ein Aufkeuchen kam von oben, und als er emporschaute, sah er eine Frau, der es irgendwie gelungen war, sich auf das flache Dach eines zweistöckigen Hauses zu retten. Sie wich vor einem Seidenrachen zurück, der auf sie zupirschte, und hielt einen Säugling fest an die Brust gedrückt. Das Kind begann zu wimmern, und die drei Rachen auf dem Boden schwenkten die Köpfe zu dem verlockenden Laut. Sie ließen von ihrer umstrittenen Beute ab. Rostigan nahm die ganze Situation mit einem Blick in sich auf und wusste, dass er die Frau nicht rechtzeitig erreichen konnte. Ein Stich des Kummers durchzuckte die Fäden seines Herzens … und lähmte kurz seine Füße, während er einen Augenblick klarer Erkenntnis erlebte.
    Er nahm Anteil.
    Er hatte ein klassisches Opfer vor sich, eins, über das er auf dem Höhepunkt seiner Macht gelacht hätte. Mütter, die mit all ihrer Willenskraft ihre Jungen beschützten, selbst wenn ihre Lage völlig aussichtslos war – wenn sie es etwa mit Karrak und einem Trupp seiner lüstern grinsenden Soldaten zu tun hatten –, hatten ihm Anlass zu Hohn und Spott gegeben. Und trotzdem empfand er hier und jetzt Trauer, weil er nicht in der Lage sein würde, diese Frau zu retten, ein Gefühl, das Karrak niemals in den Sinn gekommen wäre.
    Die Frau wich an den Rand des Daches zurück und warf einen verängstigten Blick auf das, was unter ihr lag. Die drei Rachen auf dem Boden reckten die Hälse, spreizten die Flügel und schwangen sich in die Luft. Rostigan stieß einen Ruf aus, von dem er hoffte, dass er die Bestien ablenken würde, aber der Ruf kam entmutigt heraus, denn obwohl er vielleicht ein oder zwei ablenken konnte, war es eine sehr schwache Hoffnung, dass alle vier sich umdrehen und in ihm plötzlich ein verlockenderes Ziel sehen würden.
    Bevor sein Ruf sie jedoch auch nur erreichte, stieß sein Fuß gegen etwas Hartes, und er geriet mit einem Ächzen ins Stolpern. Als er fiel, ließ er sowohl das Holzscheit als auch das Schwert los, um die Hände nach vorn zu reißen und den Sturz abzufangen. Er zuckte zusammen, als ihm die Haut an den Händen schmerzhaft aufriss. Dann sah er sich an, worüber er gestolpert war. Eine weggeworfene Stoffpuppe, die ihn mit ihrem gestickten Lächeln anlächelte! Als sein Fuß gegen sie gestoßen war, hatte die Puppe sich wie Stein angefühlt.
    Die Zeit war stehen geblieben.
    Vorsichtig nahm Rostigan die Hände vom Boden. Die Schnittwunden waren von kleinen Kieseln und Dreck verursacht worden, die unter normalen Umständen nachgegeben hätten. Er griff nach seinem Schwert und dem Holzscheit – er hatte sie in Händen gehalten, als die Zeit erstarrt war, daher waren sie jetzt mit ihm hier an diesem anderen Ort. Hier brannte das Holzscheit allerdings nicht; seine Rauchfahne war reglos und verströmte keine Hitze.
    Auf dem Dach hatte der hintere Fuß der Frau sich halb über den Rand bewegt. Der Rachen ihr gegenüber hatte sich zum Angriff bereit gemacht, und die drei, die sich vom Boden erhoben hatten, schwebten jetzt in verschiedenen Höhen unter der Frau.
    Manchmal hast du deinen Nutzen, Despirrow, dachte Rostigan.
    Er nahm kurz Anlauf, machte einen Satz auf den Rachen zu, der dem Boden am nächsten war, landete auf dessen Rücken und fand mit den Füßen sofort Halt. Nach einem zweiten kurzen Anlauf über den Seidenrachen sprang er zum nächsten weiter, ein etwas steilerer Sprung diesmal. Deshalb hatte er es so eingerichtet, dass er dort aufkam, wo Flügel und Rumpf sich trafen. Dann kletterte er auf den Rücken und schob sich über Hals und Kopf bis zur Schnauze vor. Um den dritten Seidenrachen zu erreichen, musste er weniger Höhe denn Weite überwinden, sodass er aus dem Stand hinüberspringen konnte. Er überwand die Entfernung, landete nur mit einem Fuß auf dem Rücken des Rachens und nutzte den Schwung für den letzten Sprung auf das Dach. Er landete neben der Frau und sah das blanke Entsetzen in ihren glänzenden Augen.
    Es

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