Der Herr der Unruhe
Sie deutete mit dem Kopf zur Tür und flüsterte: »Komm!«
Hand in Hand stiegen sie zum Obergeschoss empor. Vor dem Eingang zum Schlafgemach verharrte Nico.
Laura schien seine Schüchternheit zu gefallen. Ihre Mundwinkel zuckten vor kaum verhohlenem Vergnügen. Sie neckte ihn mit einer Stimme wie ein Glockenspiel. »Was ist? Du musst schon aufmachen, wenn wir unsere Hochzeitsnacht nicht hier draußen verbringen wollen.«
Er gehorchte. Langsam ließ er die Tür in den Raum schwingen. Irgendwo brannte ein Petroleumlicht. Ein ar o matischer Duft stieg ihm in die Nase. Vom Luftzug wirbe l ten im Zimmer Tausende Blütenblätter leise raschelnd u m einander. Nicht nur auf dem Boden, überall lagen sie: auf der Anrichte, dem Stuhl, dem Fensterbrett und sogar auf dem Bett. Nico konnte sich selbst nicht erklären, wieso ihn dieser überraschende Anblick mit einem solchen Glücksg e fühl erfüllte.
»Was ist das?«, keuchte er.
»Die Blätter des ausgefallenen Corpus Christi. Du eri n nerst dich doch noch, wie wir damals die Kunstwerke aus Blumen auf der Straße bewundert haben.«
»Ja, natürlich, aber …« Er schüttelte sprachlos den Kopf.
»Seit Italien in den Krieg eingetreten ist, hat es in Genz a no keine Blumenbilder mehr gegeben. Die gesammelten Blüten schliefen bis heute in den Tuffsteinhöhlen.« Laura deutete ins Zimmer. »Jetzt können wir daraus unsere eig e nen Bilder erschaffen.«
Nico nahm sie in den Arm. Er musste vor Glück weinen, weil er den liebsten Menschen, den es für ihn gab, endlich so lange festhalten durfte, wie sein Herz schlagen würde. Behutsam hob er Laura vom Boden auf, und während er sie ins duftende Meer noch ungemalter Bilder trug, zog sie hinter ihnen die Tür ins Schloss.
Vor dem Bett stellte er sie wieder vorsichtig auf die Füße, um sie erneut zu umarmen. Ihre Lippen erforschten jedes Details seines Gesichts, und seine Hände fanden erstaunlich viele Wege, um ihre Wonnen zu steigern. Nie mehr wollte er etwas anderes sein als der Hüter ihrer Freuden, der Herr ihrer liebestrunkenen Unruhe.
Als Lauras Kleid zu Boden glitt, erzeugte es ein neues Blütengestöber. Mit ihrer Hilfe wurde auch Nico schnell seine Hüllen los. Durch das Fenster fiel das silberne Licht des Halbmondes. Staunend sah er sie an und konnte sein Glück nicht lassen. Vor ihm stand eine Eva, wie Gott sie schöner nicht hätte schaffen können. Nico hob sie auf, trug sie um das Bett herum und ließ sie vorsichtig auf die r a schelnden Blüten nieder. Dann zog sie ihn zu sich herab.
»Und jetzt«, hauchte ihr heißer Atem in sein Ohr, »lass mich dir das schönste Wunder zeigen.«
Epilog
In der Folge liefen zahlreiche Lebensfäden, die mehr oder weniger lang mit demjenigen von Nico dei Rossi verknüpft gewesen waren, wieder auseinander. Gelegentlich gab es auch ein zeitweiliges Aufleben alter Verbindungen.
Einer dieser für ihn so wichtigen Menschen war Davide Ticiani. Davides Ehefrau Salomia hatte in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ihr Leben verloren; ihr genauer Todestag wurde nie bekannt. Wie Johan, Lea – und übr i gens auch der sozialdemokratische Schriftsteller Moritz Mezei – wurden sie zunächst ins Sammellager Fossoli di Carpi transportiert, bevor die Nationalsozialisten sie auf die Reise ohne Wiederkehr schickten.
Noch während die deutsche Wehrmacht in den Castelli hinhaltenden Widerstand leistete, hatten die Besatzer in der Ewigen Stadt die Gelegenheit genutzt, um Massaker zu inszenieren.
Der Polizeichef von Rom, SS-Obersturmbannführer He r bert Kappler, soll selbst mit Hand angelegt haben, als am 25. März in den Ardeatinischen Höhlen dreihundertfün f unddreißig Geiseln erschossen wurden. Es heißt, Hitler h a be persönlich die Anordnung dazu gegeben. Die Ausfü h rung des Befehls überließ er Kappler und seinen Stellvertr e tern, darunter SS-Sturmbannführer Karl Hass.
Nach dem Krieg war Hass weiter in Rom tätig, zunächst als Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes OSS und dessen Nachfolger, der CIA. Später half er beim deu t schen Bundesnachrichtendienst und auch bei italienischen Geheimdiensten aus, da man dort seine antikommunistische Haltung schätzte. Im März 1998 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt.
Erheblich früher nahm sich Justitia des Juden- und Part i sanenjägers Herbert Kappler an. Er wurde schon drei Jahre nach Kriegsende in Italien von einem Militärgericht zu l e benslanger Freiheitsstrafe verurteilt. In der Nacht vom 14. auf den 15.
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