Der Herr der Unruhe
er durch das Tor, blickte die Gasse hi n unter und sah gerade noch das Hinterrad eines Fahrrades um die Ecke biegen sowie einen wehenden hellen Stoffzi p fel, der sich zur genauen Personenbestimmung wenig eign e te. War das Laura gewesen? Unwahrscheinlich. Wieso sollte sie vor ihm fliehen?
Nico lief zu der kleinen Treppe, über die man zum Haup t eingang des Pfarrhauses gelangte. Gerade wollte er den Türgriff berühren, als ihm dieser entzogen wurde.
Vor ihm stand Giacomo Lo Bello, wie er ihn Erinnerung hatte, nur vielleicht etwas schmaler und ein wenig älter. Der schwarze Talar war makellos sauber, lediglich das Lachen wurde von traurigen Augen getrübt. Beim letzten Mal hatte der Priester in holperigem Deutsch mit einem Wiener Di a lekt gesprochen, jetzt richtete er das Wort unverkennbar an einen Italiener.
»Herzlich willkommen! Ich freue mich, Sie im Stück wiederzusehen, Signor dei Rossi. Wir haben lange auf Sie gewartet.«
Wir? »Ist Laura bei Ihnen?«
»Nein.«
Nico wäre fast zusammengebrochen. »Aber … aber im Hof steht doch der Lancia …«
»O Gott!«, stieß Padre Giacomo hervor, dem Nicos B e stürzung sofort aufgefallen war. »Ich wollte Sie nicht e r schrecken. Laura wohnt selbstverständlich bei mir. Sie kam just an dem Morgen nach Genzano, als die Alliierten unten am Meer ihre Landung begannen. Seitdem klagt Mariella – meine Haushälterin – unter Arbeitsmangel, weil das Mä d chen meint, ihr Obdach mit Frondienst abbezahlen zu mü s sen. Können Sie sich das vorstellen, Signor dei Rossi?«
»Da Sie mich mit meinem richtigen Namen ansprechen, nehme ich an, dass Laura Ihnen alles erzählt hat?«
Der alte Seelenhirte lächelte wissend. »Zumindest g e nug.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Vermutlich auf der Via dei Laghi.«
»Was?«, japste Nico. »Ist das nicht auf dem Weg nach Castel Gandolfo? Warum tut sie so etwas? In der Gegend können immer noch versprengte Einheiten der Deutschen sein und …«
»Das habe ich ihr auch gesagt«, unterbrach der Priester den aufgeregten jungen Mann. »Aber Sie wissen ja, wie die jungen Leute sind: übermütig und leichtsinnig. Seit sie bei mir ist, liegt sie mir in den Ohren: Wenn Nico mich findet, dann soll er ein Wunder erleben.«
»Wie bitte?«
»In der Remise müsste noch ein Fahrrad stehen. Mit dem anderen hat sich Laura davongemacht. Fahren Sie Richtung Albano, aber nicht bis zum zweiten Kratersee. Vorher gibt es einen Abzweig nach Ariccia. Da biegen Sie ab.«
Nico zauderte nicht lang. Er holte den betagten, schwarz lackierten Drahtesel aus dem Schuppen und ritt im g e streckten Galopp aus der Stadt hinaus. Am Straßenrand flogen immer wieder ausgebrannte Fahrzeuge an ihm vo r bei, mal deutsche, dann wieder amerikanische. Aus dem Osten, wo noch um die Überlandstraße Nummer 6 g e kämpft wurde, drang Geschützdonner herüber. Von Laura war nicht der kleinste Rockzipfel zu sehen. Nico machte sich allmählich Sorgen. Nach fünfzehn oder zwanzig Min u ten erreichte er endlich die beschriebene Gabelung. Er ve r ließ die Via dei Laghi und nahm Kurs auf Ariccia.
Schon bald wurde die Straße abschüssig. Jetzt musste er seinen heftig klappernden Drahtesel sogar zur Mäßigung ermahnen, weil er fürchtete, das alte Gefährt könnte sich unter ihm in seine Einzelteile auflösen. Und dann sah er sie.
An dieser Stelle verlief die Straße, gesäumt von frischem Grün, zunächst schnurgerade in eine Senke hinab, danach wieder den Berg hinauf und verschwand schließlich oben in einer Kehre im Wald. Laura erwartete ihren Verfolger kurz hinter der Talsohle. Ihr Fahrrad stand an einen Busch g e lehnt.
Für Nico gab es jetzt kein Halten mehr. Seine offene J a cke flatterte im Wind. Der Drahtesel schepperte auf das Mädchen zu. Als er den tiefsten Punkt der Straße erreicht hatte, zog er die Handbremse. Danach passierte zunächst einmal gar nichts. Erst als er beherzter zupackte, stellte sich so etwas wie Verzögerung ein. Mit überraschendem Schwung raste er an Laura vorbei und noch ein gutes Stück den Hang hinauf.
Endlich kam er zum Stehen, ließ das Fahrrad einfach am Straßenrand liegen und lief zu Laura zurück. Sie trug fl a che, schwarze Schuhe, kurze Söckchen, ihr geblümtes cr e mefarbenes Kleid mit halbem Arm und einen dazu passe n den Haarreif. Ihre Hände waren hinter dem Rücken ve r steckt. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht konnte Nico schwer deuten – irgendetwas zwischen Strenge und Seh n sucht. Merkwürdigerweise kostete ihn jeder Schritt
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