Der Herr der Unruhe
hätte er sich mit jedem Namen abgefunden. »Meinetwegen. Meister Davide hat gesagt, dass er mich bei Verwandten unterbringen will, aber auch nicht mehr. Ist Nikolaus nicht zu …«
»Auffällig? Ganz im Gegenteil. Aber wir können ja, wenn es dir angenehmer ist, als Rufname die in deiner neuen Heimat üblichere Form Niklas wählen.« Der Mönch zeigte den Umschlag des Goldschmieds. »Hier steht alles drin. Davide hält es nämlich für das Klügste, dich bei seinem Schwager unterzubringen. Er heißt Johan Mezei, ist wie dein Vater Uhrmacher und lebt in Wien.«
»In Österreich ? Warum nicht England? Da kommt meine Mutter her, und ich verstehe wenigstens die Sprache. Aber …«
»Jetzt tu nicht so entsetzt, Nico! Davides Wahl ist nicht die Schlechteste. Der Vatikan unterhält zur anglikanischen Kirche lange nicht so gute Beziehungen wie zu unseren Diözesen in Austria. Das liegt zwar nördlich der Alpen, aber nicht hinterm Polarkreis. Wenn du bei Mezei als der Geselle Niklas Michel in die Lehre gehst, wird man dich bald für einen alpenländischen Burschen halten.«
»Aber ich kann doch nicht mal Deutsch!«
»Das lässt sich lernen. Wir machen dich zu einem Tiroler mit italienischer Mutter und österreichischem Vater. Du bist, sagen wir, in Bozen aufgewachsen oder in Meran und erst nach dem Tod deiner Mutter auf die andere Seite der Alpen gezogen. Es ist das Natürlichste von der Welt, wenn es da anfangs mit der Sprache hapert.«
Nico war zum Heulen zumute. »Am liebsten würde ich ihn umbringen!«
»Wen? Manzini?«
»Ja! In der Thora steht, dass der nächste Angehörige eines Ermordeten das vergossene Blut von der Hand des Mörders zurückfordern soll.«
Lorenzo stand vom Stuhl auf, ging vor dem Jungen in die Hocke, umfasste dessen Hände und sagte mit zwar sanfter, aber beschwörender Stimme: »Darin heißt es aber auch: ›Mein ist Rache und Vergeltung.‹ Und diese Worte spricht Jahwe, dein Gott, Nico. Im selben Atemzug versichert er dir: ›Zur bestimmten Zeit wird ihr Fuß wanken.‹ Du bist doch der Sohn eines Uhrmachers und kennst die Macht der Zeit. Der Ewige ist sogar mächtiger als sie. Gib deinem Zorn Raum und überlass ihm die Rache.«
Nico ließ den Kopf hängen und nickte schwach. Wenn Manzini je für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen würde, dann durch ihn, den Sohn des Uhrmachers. Daran glaubte er ganz fest. Aber im Moment fehlte ihm die Kraft, seinen Anspruch auf Vergeltung überzeugend zu verteid i gen. Stattdessen verlieh er einer Hoffnung Ausdruck, die von Stunde zu Stunde schwächer wurde.
»Vielleicht ändert sich ja alles durch meine Aussage. Kann doch sein, oder? Dann kommt die Polizei, sperrt Don Massimiliano ins Gefängnis, und ich bin in ein paar Tagen wieder zu Hause.«
Der Mönch erwiderte ernst Nicos flehenden Blick. Die s mal war es Lorenzo, der sich um eine Antwort drückte.
4. KAPITEL
Der Walzenbändiger
Nettuno, 1938
» Wie hieß der Benediktiner doch gleich?« Bruno Sacchi lehnte auf der Fensterbank seiner Stube und blickte aufs Tyrrhenische Meer hinaus. Neben ihm stand ein ernster junger Mann, der mit seinem Taschenmesser einen Apfel schälte und dabei keine Miene verzog.
»Ich habe seinen Namen nicht erwähnt.«
»Traust du mir etwa nicht?«
»Der Mönch hat mich gebeten, seinen Namen niemandem zu verraten. Ich denke, das bin ich ihm schuldig.«
»Warum hat er dich ausgerechnet Niklas Michel g e nannt?«
»Vermutlich wegen seines etwas sonderbaren Humors. Na ja, vielleicht kam er mir auch nur merkwürdig vor, weil er viele Dinge sagte und tat, die man von einem engen Ve r trauten des Papstes kaum erwarten würde. Jedenfalls ist mein neuer Familienname auch so eine seiner ›Listigke i ten‹, wie er mir mit einem Schmunzeln erklärte. Wegen ihrer Schlafmützigkeit würden die Teutonen ja gelegentlich als ›Michel‹ bezeichnet, sagte er. Eigentlich ist das aber eine Kurzfassung des hebräischen Michael , was für ›Wer ist wie Gott?‹ steht. Ulkigerweise gibt es auch im Alt- und Mittelhochdeutschen das Wort michel .«
»Und was bedeutet es da?«
»Groß.«
»Das passt zu den Träumen ihres Führers.«
»Für Diktatoren hast du nicht viel übrig, stimmt’s?«
Bruno schnaubte. »Du etwa? Meine geistige Heimat ist die Giustizia e Libertà . Hättest du nicht Lust mitzum a chen?«
»›Gerechtigkeit und Freiheit‹?«, murmelte Nico. »Ist das eine oppositionelle Bewegung?«
»Man merkt, dass du lange von zu Hause weg
Weitere Kostenlose Bücher