Der Herr der Unruhe
s terten Weg die Nordflanke der Peterskirche abgeschritten hatten, fand Lorenzo zur Sprache zurück.
»Das klingt mehr als ernst. Davide hat hier nur einiges von dem angerissen, was dir in der vergangenen Nacht pa s siert ist. Ich würde gerne mehr darüber erfahren. Es könnte wichtig für uns beide sein. Kannst du darüber sprechen …?« Er ließ die Frage seltsam unvollendet ausklingen.
»Wird schon gehen«, murmelte Nico und schluckte. O b wohl er versuchte tapfer zu sein, klang seine Stimme doch ziemlich brüchig. »Alles begann, … als ich gestern Abend mit Bruno nach Hause kam. In der Werkstatt meines Vaters brannte noch Licht …«
Stockend und gelegentlich von den Zwischenfragen L o renzos unterbrochen, erzählte er vorn Mord an seinem V a ter, von der Flucht in Marios schepperndem Fischlaster, dem Herumirren im Rione, dem schockierendem »Wil l kommensgruß« im Haus des Goldschmieds bis zu ihrem Treffen auf der Piazza Navona. Irgendwann spürte er, dass Lorenzos Arm auf seiner Schulter lag. Sie hatten inzw i schen das nordwestliche Ende der Vatikanischen Gärten erreicht. Die Schutzmauer bildete hier eine Bastion; sie wölbte sich in Form eines halbierten Sechsecks nach außen und umschloss so von drei Seiten eine kleine Gruppe von Gebäuden.
»Dort wirst du die nächsten Tage wohnen«, sagte Lorenzo und zeigte auf das kleinste der fünf Häuser.
Der Junge nickte nur.
»Versuche Mut zu fassen, Nico. Ich kann dir deinen Vater nicht zurückgeben, aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich vor seinem Mörder zu schützen.«
»Was kann ein einfacher Benediktinermönch schon gegen einen wie Don Massimiliano ausrichten!«
»Immerhin habe ich dich hierher gebracht, ohne Visum.«
»Gehörst du zum … zur …« Nico fiel das Wort nicht ein.
»Du meinst, zur Kurie?« Lorenzo schmunzelte. »Im u r sprünglichen Sinne des Wortes schon.«
»Kapier ich nicht.«
»Das lateinische Wort curia bedeutet eigentlich ›vereini g te Männerschaft‹. Was ich damit sagen will, ist, dass ich außer der Priesterweihe keinerlei geistliche Titel erworben habe. Ich bin nur ein Mann, der einem anderen mit Rat und Tat zur Seite steht.«
»Und wen berätst du?«
»Den Schulfreund meines Vaters.«
»Ist der auch Seelsorger im Vatikan?«
»So könnte man sagen. Er heißt Achille Ratti.«
Sie hatten sich gerade angeschickt, das kleine Haus zu b e treten, doch nun verharrte Nico mitten im Schritt. Unglä u big starrte er seinen Begleiter an. »Aber das ist … der Papst !«
Lorenzos dunkle Augen funkelten vergnügt. »Das stimmt natürlich. Aber ich helfe ihm trotzdem.«
Nicos Knie wurden weich. Davide hatte ihn in die Obhut eines Vertrauten aus dem engsten Kreis von Pius XI. geg e ben. Er spürte, wie Lorenzos überraschend kräftige Hand ihn am Oberarm packte.
»Du siehst aus, als würdest du jeden Moment aus den Latschen kippen. Komm schnell rein. Drinnen findest du alles, um dich auszuruhen.«
Der Junge ließ sich bereitwillig ins Haus führen, in dem ein muffiger Geruch hing. Vermutlich war hier schon lange nicht mehr gelüftet worden. Im Halbdunkel der Diele kon n te man das Ende der nach oben führenden Treppe nur era h nen. Nico hörte am wiederholten Klicken, wie der Mönch mit dem Lichtschalter kämpfte. Trotzdem blieb es düster.
»Das passiert hier ständig«, beklagte sich Lorenzo.
»Was?«
»Die elektrische Beleuchtung. Irgendwie scheinen sich die alten Gemäuer mit den Segnungen der Neuzeit nicht anfreunden zu können.«
Der Junge legte unwillkürlich die Hand auf die Wand zu seiner Rechten. Der Verputz war kühl und ein wenig klamm. »Es könnte aber auch andersherum sein.«
Lorenzo runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Darf ich?« Nico streckte die Hand nach dem Lichtscha l ter aus und berührte, nachdem der Mönch einen Schritt zur Seite getreten war, mit dem Daumen sacht den Schaltknopf. Für einen Moment verharrte er in dieser Stellung und legte ihn dann um.
In der Diele ging die Beleuchtung an.
Lorenzo schüttelte den Kopf. »Du hast doch nichts and e res getan als ich.«
»Ich glaube, doch.«
»Und was?«
»Ich habe dem Schalter meine Aufmerksamkeit g e schenkt.«
Nico hatte schon etliche Situationen dieser Art erlebt und erwartete die übliche Reaktion: ein Lachen, vielleicht auch ein Kopfschütteln. Stattdessen sah er sich unvermittelt e i nem fast körperlich spürbaren Blick ausgesetzt, einer Ti e fenbohrung in seine Seele. Schließlich sagte Lorenzo leise:
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