Der Herr der Unruhe
Bruno. »Vielleicht liest man, wo du herkommst, ja keine Zeitungen, sonst wüsstest du, dass Mussolini im letztem Jahr die Entfernung aller Juden aus öffentlichen Ämtern und dem Militär verfügt hat. Der Duce hat sich von Hitlers Antisemitismus anstecken lassen.«
»Ich weiß, Bruno. Mir ist diese Sache bestens bekannt. Vor gerade zehn Tagen habe ich mit eigenen Augen ans e hen müssen, wie das Leben zahlloser Juden buchstäblich in einen Scherbenhaufen verwandelt wurde. Hitlers Handla n ger nannten das Pogrom zynischerweise ›Reichskristal l nacht‹ – weil die Überreste der zertrümmerten Fenste r scheiben so schön glitzerten.«
Das überschäumende Gemüt des jungen Fremdenführers kühlte augenblicklich ab. Betreten sah er zu Boden. »Ich hätte dir sowieso nicht abgenommen, dass du etwas für braune oder schwarze Hemden übrig hast. Die stehen uns beide nicht.«
Nicos Blick wanderte wieder auf das Meer hinaus. Vor seinem geistigen Auge erschien ein von schwarzen Locken umrahmtes blasses Gesicht.
»Woran denkst du?«, fragte Bruno.
»Nichts weiter.«
Seine Stimme bekam einen spöttischen Klang. »Das kannst du einem anderen erzählen, aber nicht deinem besten Freund.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du …«
»Sie hat dir den Kopf verdreht, stimmt’s?«
»Wer?«
»Na wer wohl? Donna Laura natürlich, das hübscheste Mädchen der Stadt. Und wohl auch das reichste. Schlag sie dir aus dem Kopf.«
»Du meinst, weil so jemand wie ich nie ein Mädchen h a ben wird, das einen eigenen Chauffeur herumkommandi e ren kann?«
»Nein. Ich meine, weil es für einen Mann, der einen R a chefeldzug gegen den Stadtvorsteher plant, tödlich enden könnte, sich in Don Massimilianos Tochter zu verlieben.«
Der Dezember schickte sich an, die nasskalten Novembe r tage noch an Scheußlichkeit zu übertrumpfen. Bruno Sa c chis Einzimmerwohnung über der Stadtmauer besaß nur einen Herd, der mit Holz, manchmal mit Kohlen befeuert wurde und keine sehr gute Heizung abgab. Wenn der Westwind vom Meer her gegen das Fenster drückte – mi t hin so gut wie immer –, zog es in der Kammer wie in einem Kamin. Brunos Logiergast war strenge Winter gewohnt, weshalb er derlei Unbilden mit stoischer Gelassenheit hi n nahm. Was ihn beschäftigte, hatte nichts mit dem Wetter zu tun.
Wie kam man an den Podestà heran? Das war die zentrale Frage. Erst mit Unterstützung seines Freundes, dann auf eigene Faust hatte Nico in den letzten Tagen einige Erku n digungen über den Stadtvorsteher von Nettuno eingezogen. Manzini sei ein glühenderer Faschist denn je, hieß es a l lenthalben. Zumindest gab Don Massimiliano vor, der tre u este Parteigänger des Duce zu sein. In Wirklichkeit lag ihm nicht mehr oder weniger an Mussolini als an irgendjema n dem sonst. Es ging ihm nur darum, die Menschen auszube u ten.
Abgesehen von der Tatsache, dass Manzini nun ein off i zielles Amt bekleidete, war dies für den Sohn des ermord e ten Uhrmachers nichts, was er nicht schon seit Jahren wus s te. Mehr interessierte ihn das Umfeld, in dem sich der Vo r steher bewegte. Wenn man die Gewohnheiten eines Me n schen kennt, dann wird er berechenbar. Und genau darum ging es Nico. Tagelang streifte er durch die Stadt und pla u derte mit jedem, der dazu aufgelegt war. Schnell wurde er sehr geschickt darin, das Gespräch wie zufällig auf den Podestà zu lenken. So verschaffte er sich ein umfassendes Bild von den Ereignissen der zurückliegenden sechs Jahre und der Stimmung in der Bevölkerung im Allgemeinen sowie von Manzinis »Regierungsstil«, seinen Leistungen und seinen Machenschaften im Besonderen.
Im Nordosten von Nettunos Altstadt gab es ein kleines Areal, das Nico wie eine Todeszone mied. Sein Geburt s haus, das dem Vater zum Schlachthaus geworden war, lag im Zentrum dieses emotionalen Minenfelds. Weil es an sehr exponierter Stelle stand, streifte Nicos Blick es manchmal aus der Ferne. Dann begann sein Herz jedes Mal heftig zu schlagen, und er bekam feuchte Hände. In den darauf fo l genden Nächten plagten ihn häufig Albträume, in denen er wieder und wieder hörte, wie der Kopf seines Vaters von Don Massimiliano auf den Boden geschmettert wurde, ein zum ohrenbetäubenden Hämmern anschwellendes G e räusch. Selbst wenn er schweißgebadet erwachte, glaubte er noch ein Echo davon zu vernehmen.
Manzini residierte im Palazzo Comunale, einem stattl i chen Gebäude vor den Toren des mittelalterlichen Ort s kerns. Es mag in der Absicht der Erbauer
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