Der Herr der Unruhe
dieses »Palastes der Gemeindeverwaltung« gelegen haben, den schon zur Jahrhundertwende beliebten Badeort Nettuno durch mo n däne Architektur aus der Provinzialität zu erheben, aber irgendwie wirkte dieser Versuch auf eine anrührende Weise missglückt. Wie seine jahrhundertealten Vorbilder aus Fl o renz oder Rom besaß der Palazzo einen annähernd quadr a tischen Grundriss, verfügte jedoch im Unterschied zu den Wehr- und Prunkbauten der Renaissance über ein eher o f fenes Untergeschoss mit mehreren, von Säulen flankierten Eingängen und zahlreichen unvergitterten Fenstern. Der Architekt hatte, als habe er das Auge des Betrachters am allzu schnellen Abgleiten hindern wollen, die schlichte Grundform mit allerlei Blickbrechern überhäuft: unten Flachbögen und cremefarbene Steinquader, im Stockwerk darüber Balkone, Rundbogenfenster und rote Backsteine, sowie unter dem steinernen Gebälk des Flachdachs immer wieder das Stadtwappen aus Stuck und dazwischen grüne Füllungen. Das auffälligste Merkmal des Kommunalpala s tes war ohne Frage der über seiner Südwestecke aufrage n de, viereckige, zinnenbewehrte Uhrenturm. Er war ungefähr so hoch wie ein weiteres Stockwerk. Die Zifferblätter an seinen Außenseiten verrieten den Nettuniern, was ihnen die Stunde geschlagen hatte. Der Palazzo bildete nicht wirklich einen Kontrapunkt zu den mannigfachen Aus- und Anba u ten innerhalb und sogar auf der alten Stadtmauer; eher set z te er die dort über Jahrhunderte gewachsenen Vielfalt nur mit anderen Mitteln fort.
In dieser Residenz war der Gemeindevorsteher seltener anzutreffen, als man annehmen mochte. Einen Großteil seiner Geschäfte wickelte er von zu Hause ab. Sein Anw e sen hatte sich in den vergangenen sechseinhalb Jahren kaum verändert. Äußerlich erschien es sehr schlicht. Die Fassade gliederte sich in mehrere Gebäudeteile, die unte r einander verbunden waren. Mit der abblätternden grauen Fassade wirkte der Komplex fast schon verwahrlost, aber wer je in Don Massimilianos Privatpalast eingeladen wo r den war, der wusste von einer Innenausstattung zu beric h ten, die in Nettuno ihresgleichen suchte. Der mächtige Bau lag an der Westseite der weitläufigen Piazza Umberto I. dort wo die Reifen der Automobile auf dem Kopfsteinpfla s ter trommelten und die Straßenbahn manchmal sogar nach Fahrplan vorbeikreischte. Wie zahlreiche andere Häuser hier war das Anwesen mit den Resten der alten Stadtmauer unlösbar verwachsen. An seiner Nordfront klebte ein uralter Rundturm. Das Hauptgebäude war ein nur unerheblich jü n gerer, fast kubischer Palazzo mit fünf Stockwerken, jedes durch ein Gesims von den darunter liegenden abgetrennt, aber insgesamt weit weniger überladen als der Kommuna l palast. An seiner Rückseite grenzte er an die Via del Li m bo, gewährte aber durch eine Lücke in der gegenüberli e genden Häuserzeile Blick auf die Stiftskirche San Giova n ni.
Auf der Via Durand de la Penne waren es von Manzinis Anwesen bis zum Gebäude der Stadtverwaltung nur ein paar hundert Meter. Trotzdem ließ sich Nettunos Oberhaupt jeden Tag in seiner launischen schwarzen Limousine hin- und auch zurückkutschieren. Dabei wurde er stets von se i nem Chauffeur, dem hünenhaften Uberto Dell’Uomo, e s kortiert. Mit Gewehr oder Bombe hätte ein fanatischer A t tentäter den Stadtvorsteher wohl trotzdem töten können, aber Nico war alles andere als das. Sicher, manchmal mac h te ihn die Vorstellung rasend, wie problemlos Manzini Menschen ermorden und ungeschoren davonkommen kon n te. Während der Durchwanderung solcher Seelenschluchten hätte Nico nicht unbedingt darauf wetten mögen, ob er e i ner Gelegenheit zur blutigen Abrechnung mit dem verhas s ten Mörder widerstehen könnte. In besonneneren Mome n ten hingegen sagte er sich, dass es bessere Wege geben müsse. Zur bestimmten Zeit wird auch sein Fuß wanken. Lorenzos Versprechen war nicht vergessen.
Leider konnte man sich dem ersten Mann der Stadt kaum auf mehr als fünfzig Meter nähern, ohne Verdacht zu err e gen. Seine Sekretärin war sogar völlig unbeeindruckt geblieben, als Nico in der Rolle eines Wiener Italienreise n den, der über seine Erlebnisse ein Buch zu schreiben und Nettuno darin möglicherweise ein eigenes Kapitel zu wi d men gedachte, im Kommunalpalast vorstellig geworden war und um eine Besprechung mit dem »Stadtvater« geb e ten hatte. Freundlich lächelnd ließ man den deutschen Gast abblitzen. Für Normalsterbliche galt es als
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