Der Herr der Unruhe
das Kleinod in die Hände des »Doktors« gleiten.
Nico begab sich gemessenen Schrittes zum Bespr e chungstisch. Diese Maßnahme war zur Diagnose des Le i dens der Uhr nicht unbedingt erforderlich, aber sie ve r schaffte ihm eine Atempause, um sich zu sammeln. Seine Finger zitterten. Er glaubte, die Lebenskraft seines Vaters spüren zu können, die in das juwelenbesetzte Meisterstück geflossen war. Nach der Flucht ins Ausland hatte er sich oft gefragt, ob er es jemals wieder würde sehen, geschweige denn berühren dürfen.
Laura rückte ihm zu ihrer Linken einen Stuhl zurecht, auf dem er sich behutsam niederließ. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts und förderte ein schwarzsamtenes Futteral zutage, das in der Mitte mit einer Schleife verschnürt war. Mit einer Hand öffnete und entrollte er es, schlug die obere Hälfte der Schutzhülle zurück und legte die Uhr auf das weiche Tuch.
Don Massimiliano atmete erleichtert auf, als habe sein Gemeindemechaniker gerade eine Wagenladung Nitrogl y zerin umgeladen.
Nico klemmte sich eine Lupe ins rechte Auge und begann mit der äußeren Untersuchung des Patienten. Ohne Manzini anzusehen, fragte er: »Warum nennen Sie dieses wunderb a re Stück ihre Lebensuhr ?«
Eine kleine Pause entstand. »Müssen Sie das wissen, um sie zu reparieren?«
Nico verkniff sich ein Schmunzeln. »Es könnte hilfreich sein.«
»Ich bin manchmal ein bisschen abergläubisch.«
»Ach!«
»Ja, ich vertrete die Überzeugung, dass unser Leben mit vielem verzahnt ist: mit den Sternen, der Natur, eben der gesamten belebten und unbelebten Schöpfung. Das Maß an Glück, das einem Menschen widerfährt, ist nichts weiter als ein Gradmesser dafür, wie sehr er im Einklang mit diesen Dingen lebt.«
»Interessant. Und die Uhr?«
Manzini hob die massigen Schultern. »Sie bringt mir Glück.«
»Solange sie tickt?«
»Sie sagen es.«
»Und wenn sie eines Tages stehen bleibt?«
»Jetzt ist aber Schluss damit, Signor Michel! Sorgen Sie dafür, dass sie wieder richtig geht, und es wird nicht zu Ihrem Schaden sein.«
Nico lächelte das weiße Zifferblatt an. Im Glas darüber konnte er den bebenden Besitzer der Uhr sehen. »Ich werde mein Bestes tun, Don Massimiliano. Aber vielleicht sollten Sie solange den Raum verlassen, wie ich unseren kleinen Patienten hier verarzte. Ihre Nervosität ist ansteckend. Ich könnte womöglich bei meinem Eingriff abrutschen .«
Das letzte Wort hatte ein Zucken in Manzinis rechtem Auge ausgelöst, das gar nicht mehr aufhören wollte. »Na gut«, willigte der Hausherr ein und wandte sich seiner Tochter zu. »Du bleibst hier bei Signor Michel. Wenn er fertig ist, lässt du mich rufen. Uberto wird draußen warten.«
Laura nickte.
»Und«, druckste er. »Entschuldige, dass ich dich vorhin so angefahren habe. Du weißt ja …«
»Ja, Vater«, kam sie ihm rasch zu Hilfe. »Du brauchst nichts zu sagen.«
Er drehte sich um und stapfte hinaus. Nico hörte, wie er Uberto vor der Tür eine letzte Anweisung zuraunte. »Sorge dafür, dass Signor Michel sich ungestört um seine Aufgabe kümmert. Aber auch nur um sie.«
Manchmal hatte er in den zurückliegenden Jahren g e dacht, seine Erinnerungen seien so sehr von Albträumen durc h wachsen, dass er Wirklichkeit und Einbildung nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermochte. Doch nun kehrte alles wieder zurück. Nicos Hände zitterten, als er den hint e ren Deckel der Uhr aufklappte und die Inschrift las.
Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht,
Es sei, Dei-Rossi-Uhren tun ihre Pflicht.
Die Worte bargen ein tödliches Geheimnis. Ein Mensch hatte ihrethalben sterben müssen. Nein, nicht irgendein Mensch. Der Uhrmachermeister. Sein Vater. Was nur hatte damals die dunkelsten Seiten in Massimiliano Manzinis schwarzer Seele geweckt …?
Nico fuhr zusammen, als eine Träne auf die Worte des Dichterfürsten fiel.
»Niklas, was ist mit dir?«, raunte Laura neben ihm.
Er blickte benommen auf ihre Hand, die sich auf seinen Arm gelegt hatte. Was sollte er ihr antworten? Dein Vater hat wegen dieser Uhr meinen umgebracht? Er wusste, wie Laura über ihren Erzeuger dachte. Vor wenigen Minuten erst hatte sie ihm seinen jüngsten Zornausbruch allzu leicht verziehen. Nein, machte sich Nico klar, mit einem solchen Geständnis konnte er sie nur von sich stoßen. Ein für alle Mal.
Er schüttelte den Kopf. »Mir ist nur gerade durch den Sinn gegangen, was die Leute über die Geschichte dieser Uhr
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