Der Herr der Unruhe
lässt man auch nicht ständig im Stall herumst e hen.«
»Sind Sie verrückt geworden? Da könnte ich sie ja fallen lassen.«
»Es gibt gegen solche Unwägbarkeiten Uhrenketten, Don …«
»Davon will ich nichts hören. Die Lebensuhr bleibt da, wo sie ist.«
»Dann dürfen Sie Ihrer Tochter aber auch nicht die Schuld geben, wenn die Uhr bald wieder aus dem Tritt kommt.«
»Sie haben Recht. Ich war schon immer der Meinung, dass Frauen und Technik nicht zueinander passen.«
Laura schnappte nach Luft. »Vater!«
»Nichts für ungut, Liebes.« Manzini achtete nicht weiter auf seine Tochter und richtete das Wort wieder an seinen Doctor Mechanicae. »Signor Michel, ich beobachte Sie nun schon eine ganze Weile. Ich habe sie zu allen möglichen Zeiten in mein Haus gerufen, und welches technische Pro b lem es auch immer gab, Sie vermochten es zu lösen. Auch in der Gemeinde erfüllen Sie vorbildlich ihre Pflicht. Man kann Ihnen vertrauen, das haben Sie eindrucksvoll bewi e sen, und ich finde, das Ministerium hat völlig zu Recht I h rer Einbürgerung zugestimmt …«
»Sie haben die Bestätigung schon bekommen?«
Manzini lächelte jovial. »Eine kleine Überraschung, die ich mir für diesen Moment aufgespart habe. Eigentlich wollte ich es mir für kommenden Sonntag aufheben, aber nun, da sich die Ereignisse so überstürzt haben … Wie auch immer, ich möchte, dass Sie der Hüter meiner Lebensuhr werden.«
»Der was ?«
»Mein persönlicher Doctor Mechanicae, der Herr der U n ruhe, der Sachwalter der Zeit. Nennen Sie ‘s, wie Sie wo l len, aber lehnen Sie bitte nicht ab. Sie sagten ja selbst, dass die Uhr Auslauf braucht oder wie immer ihr Uhrmacher euch da ausdrückt. Selbstverständlich darf sie das Arbeit s zimmer nicht verlassen, aber innerhalb dieser vier Wände können Sie alles mit ihr anstellen, was ihre Lebensdauer verlängert und der Genauigkeit ihres Gangs nützt. Ich schlage vor, Sie besuchen mich täglich für, sagen wir, eine Stunde und pflegen meinen kleinen Schatz. Was halten Sie davon?«
»Ich bin sprachlos.«
Manzini lächelte zufrieden. »Nicht ganz, wie man hört. Selbstverständlich zahlt die Gemeinde Ihnen für Ihre Dien s te einen Zuschlag.«
Nico konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Wie verhält man sich, wenn man von inneren Turbulenzen zerfetzt zu werden droht und es sich nicht anmerken lassen darf? Sein Gesicht zuckte, aber dann traf sein umherirrender Blick auf Lauras strahlende Miene. Natürlich! Sie wusste, dass ihr Vater seinen ›Herrn der Unruhe‹ nicht allein im Arbeit s zimmer lassen würde. Ergo brauchte der Hüter eine Hüt e rin. Sie würde sich für diese verantwortungsvolle Aufgabe als Freiwillige melden.
»Nun?«, hakte Manzini nach.
Nicos Blick kehrte zum Hausherrn zurück, und durch se i nen Kopf schwebte eine ferne Erinnerung an ein Gespräch, das er einmal mit Meister Mezei geführt hatte: Du kannst die Zeit in keinen Damm zwingen, sondern sie nur wie ein Schiff begleiten, während sie ihren Lauf nimmt. Dann mag sie dich eines Tages ans Ziel deiner Sehnsüchte tragen. In diesem Moment erschien ihm der weise Rat des Wiener Uhrmachers wie eine Prophezeiung. Er konnte für Manzini in sehr viel umfassenderem Sinne der »Herr der Unruhe« sein, das war an diesem Morgen offenbar geworden. A n scheinend hatte abergläubische Furcht Don Massimiliano zur Unvorsichtigkeit verleitet, als er den Inhalt des Telef o nats verriet. Der Mann, so schwer sein Körper auch war, ruhte keineswegs unverrückbar in seiner Selbstüberschä t zung. Er besaß verwundbare Stellen, und das »Auge der Zeit« – seine Lebensuhr – mochte sich von allen als die sensibelste erweisen. Der von ihm erwählte Hüter würde ihn aus dem Verborgenen beobachten, geduldig abwarten, bis »ihr Zeiger verschwindet und die Unruh erstarrt«.
Nico nickte und streckte Manzini die Hand entgegen. »Also gut. Mir ist die Tragweite Ihres Angebots durchaus bewusst, Don Massimiliano, und ich bin froh, dass Sie mich dafür ausgewählt haben.«
7. KAPITEL
Der Lehrling
Wien, 1934
» Was geht dir durch den Kopf, mein Junge?« Johan Mezei stand in dem Durchgang, der sein Uhrengeschäft in der Wiener Porzellangasse von der Werkstatt trennte, und mu s terte Nico mit besorgter Miene. Aus einem Lehrling, dem er nur widerwillig Unterkunft gewährt hatte, war ihm in wen i ger als zwei Jahren fast ein Sohn geworden.
Nico fuhr zusammen. Über der Arbeit an einem kränkel n den Uhrwerk waren
Weitere Kostenlose Bücher