Der Herr der Unruhe
seine Gedanken abgeschweift. »Ach, nichts.«
»Nun red schon, Niklas! Ich merk doch, dass dich seit Tagen irgendetwas bedrückt. Ist es wegen des großen Au f trags? Hast du Angst, die Ankeruhr könnte deine Fähigke i ten überfordern?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es nicht. Als wir die Brückenuhr am Hohen Markt zum ersten Mal besucht haben, war sie mir auf Anhieb zugetan. Sie wird mir verraten, wo es bei ihr klemmt und zwickt.«
Der Alte lächelte versonnen. »Du bist wirklich ein ganz besonderer Bursche, weißt du das? Ich sage dir, du sollst den Tell auswendig lernen, und du tust es glatt; du sprichst beinahe schon so gut Deutsch wie ich. Den Laden hier schmeißt du fast ganz allein – mit knapp fünfzehn Jahren! Aber wie du mit den Uhren umgehst, das gibt es kein zwe i tes Mal – als wären es lebende Wesen.«
Nico zuckte die Achseln. »Ich respektiere sie nur, das ist alles.«
»Ja, ja, das ist alles.« Johan lachte leise. »Jetzt aber mal Tacheles, Niklas. Was liegt dir auf der Seele?«
»Ich habe an meinen Vater gedacht … Und an Massimil i ano Manzini. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass er weiterleben darf und Papà tot ist.«
»Allmächtiger! Du musst diese Nacht endlich hinter dir lassen, sonst wird die Erinnerung daran dich völlig verze h ren.«
»Es ist gerade erst ein Jahr her, seit …«
»Nicht ein Jahr, Niklas. Dein Vater ist vor einundzwanzig Monaten gestorben. Und immer noch schreckst du nachts aus Albträumen hoch oder rennst, wenn andere schlafen, wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung. Lea sagt, wenn du nicht bald vernünftig isst und schläfst, dann wirst du irgendwann umkippen und nicht wieder aufst e hen.«
»Das wäre nicht unbedingt das Schlechteste.«
»Was willst du damit sagen?«
Mit einem Mal brachen die über Monate aufgestauten G e fühle aus Nico heraus. Seine Unterlippe begann zu zittern. Tränen flossen über seine Wangen. » Papà ist wegen mir gestorben. Ich hätte ihn vor diesem Schlächter Manzini retten können. Aber ich war zu feige. Ich habe zugesehen, wie er meinen Vater absticht, und habe mir dabei vor Angst in die Hosen gemacht. Dabei hätte ein Pieps ausgereicht, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.«
Johan stieß sich von der Mauer ab und lief zu dem Ju n gen. »Komm her«, befahl er und breitete die Arme aus.
Nico stand auf und ließ sich drücken.
»Dich trifft keine Schuld am Tod deines Vaters, Junge«, sagte Johan beschwörend.
»Du hast gut reden, Meister Johan, weil du nicht dabei warst. Aber ich habe es erlebt. Don Massimiliano regte sich über eine Kleinigkeit auf. Wäre ich überraschend aufg e taucht, dann hätte sich sein Zorn verflüchtigt.«
Johan schob den Jungen auf Armeslänge von sich und blickte ihm scharf in die Augen. »Das kannst du nicht wi s sen, Niklas. Allzu oft sehen wir nur, was wir zu sehen wü n schen. Vielleicht hätte dich dieser Ganove auch umg e bracht. So, wie du ihn mir beschrieben hast, ist er ein zie m lich starker Mann. Gegen sein Messer und seine Kraft hä t test du nichts ausrichten können. Du magst denken, du hä t test ein Recht, dein Dasein zu verfluchen, aber das ist ein Asmodi in deinem Geist. Du kennst das Wort doch, nicht wahr?«
Nico nickte schwach. »Ein Dämon.«
»So ist es. Ein ashmodai ist ein ›Verderber‹, den du am besten sofort austreibst. Indem du dein Leben fortwirfst, verachtest und beleidigst du jene, denen du es verdankst: deine Eltern, vor allem aber den Ewigen. Willst du das?«
Nico erschrak. Von dieser Seite hatte er seine missliche Seelenlage noch nie betrachtet. Er schüttelte den Kopf.
Das Gesicht des Uhrmachermeisters entspannte sich. »Das habe ich auch nicht angenommen, mein lieber Junge. Kehr den Schamott heraus, der deine Gedanken belastet. Trauere um deine Eltern, aber klammere dich nicht an Ve r gangenes, das du nicht ungeschehen machen kannst. Und verschwende deine Kraft nicht an Rachegelüste. Vergiss nie: Zeit ist Leben, und Leben ist Zeit.«
»Ich weiß. Das sagst du alle naselang.«
»Weil es wahr ist, Niklas. Sagt man nicht von einem Menschen, der gestorben ist, seine Zeit sei abgelaufen?«
»Schon.«
»Na, siehst du, da haben wir ‘s! Und doch ist die Zeit mächtiger als all dein Tun und Wollen. Du kannst sie in keinen Damm zwingen, sondern sie nur wie ein Schiff b e gleiten, während sie ihren Lauf nimmt. Dann mag sie dich eines Tages ans Ziel deiner Sehnsüchte tragen. Während der Reise ist es am klügsten, zu
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