Der Herr der Unruhe
herzurühren. Möglicherweise war der Blindgänger dort eingeschlagen, mit gebremster Wucht zu Boden gefallen, anschließend über die Straße gerollt und erst vor dem Lastwagen zum Stehen gekommen. Wie auch immer, er musste zwei Dinge tun: dem
Mädchen helfen und der Bombe Respekt zollen.
Sie war Ehrfurcht gebietend dick. Das Abwasserrohr eines
ganzen Häuserblocks dürfte ungefähr den gleichen Durchmesser haben, schätzte Nico. Nach hinten verjüngte sie sich und besaß die schon erwähnten Leitwerke. Vorne war sie kugelrund. Er hatte keine Ahnung, wo der Zünder von so einem Ding steckte, wusste nicht einmal sicher, ob er noch scharf war. Nico legte die Hand auf den eisernen Leib und schloss die Augen. Doch, er ist noch scharf.
Als Nächstes begann er eine kleine Melodie zu summen. Ninas Schluchzen verstummte. Staunend starrte sie den fremden Mann an, der sich bei all dem Durcheinander die Zeit nahm, ihr ein Liedchen vorzutragen. Ebenso überraschend, wie die Darbietung begonnen hatte, endete sie auch wieder.
Plötzlich legte Nico die zweite Hand an die Bombe und rollte sie den Bruchteil einer Umdrehung herum. Dadurch hob sich der Heckflügel von Ninas Bein.
»Zieh es heraus, schnell!«, forderte er sie auf.
Sie gehorchte.
»Lauf zu der Hauswand da rüber und dann die Straße entlang.
Ich komme sofort nach«, befahl er hierauf, während er in die be-zeichnete Richtung deutete. Den Sprengkörper ließ er nicht los.
Nina tippelte davon.
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Nun stemmte Nico die Bombe um etwas weniger als fünfund-
vierzig Grad herum und gab ihr einen Stoß. Danach rannte er in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte lieber nicht ausprobie-ren, ob der Zündmechanismus nach seiner »Spezialbehandlung«
eventuell doch wieder erwachen würde.
Unterwegs schnappte er sich das Mädchen – es war noch
nicht weit gekommen. Rasch hielt er ihr die Hand vors Gesicht, um ihr den Anblick der verkohlten und zerfetzten Leichen zu ersparen. Das Bombardement hatte inzwischen nachgelassen, aber als er endlich in den Hauseingang stürmte, hinter dem Nina ihrer Mutter wiedersehen sollte, hörte er hinter sich eine gewaltige Detonation. Die wenigen Fensterscheiben, die noch nicht zu Bruch gegangen waren, zerbarsten wie das dünne Eis des ersten Frosts.
Kurz darauf konnte Nico das Mädchen den Armen seiner Mut-
ter übergeben. Sie war außer sich vor Glück, und die Menschen im Keller jubelten und fielen sich um den Hals. Manchen hatte er nach dem Schrecken der letzten Minuten wieder ein wenig Hoffnung gespendet. Nur der Held selbst, der im Viertel bald als
»Bombenzähmer von San Lorenzo« bekannt werden sollte, blieb sehr still. Trotzdem empfand er nach den vergeudeten Monaten der Trostlosigkeit zum ersten Mal wieder einen Tag als Gewinn.
Er hatte ein junges Leben gerettet. Er fühlte wieder etwas.
Und er konnte wieder lächeln.
Der Überlieferung zufolge hatte Nero am 19. Juli des Jahres 64
Rom in Brand gesetzt. Durch den Bombenabwurf der Alliierten wurde dieser Tag endgültig stigmatisiert. Zumindest Nico brannte er sich als Anniversarium der Menschenverachtung ein. Nach allem, was er seit dem Mord an seinem Vater durchgemacht hatte, erschienen ihm die Ideale des Humanismus wie ein verblichener Schriftzug an der Wand eines zerbombten Hauses. Während
man den Wert von Gold an Börsen notierte, schien man den des menschlichen Lebens auch nach fast eintausendneunhundert Jahren nur an seinem Brennwert zu messen.
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Er schüttelte trotzig den Kopf. Nein, er durfte jetzt nicht in Zynismus verfallen. Immerhin hatte er eines dieser Leben gerettet, und das war ein unendlich gutes Gefühl.
Eine Weile lief er ziellos zwischen Opfern und Helfern am Bahnhof herum, der von den Bomben gründlich zerstört worden war. Endlich fand er ein Durchkommen und ging die Via Cavour entlang weiter in Richtung Trastevere.
Das Viertel links vom Tiber war vom Bombenhagel verschont geblieben. Von der Höhe des Gianicolo musste San Lorenzo wie ein riesiges Lagerfeuer aussehen. Nico fehlte jedoch der Mut, sich davon zu überzeugen. Er war froh, als er endlich das dreistöckige Haus an der Piazza Santa Maria in Trastevere erreichte. Von seiner kleinen Wohnung aus konnte er direkt auf die gleichnamige Basilika sehen. Johan Mezei und seine Frau hatten in der Via San Franceso a Ripa, also in unmittelbarer Nachbarschaft, einen Unterschlupf gefunden und lebten dort seit ihrer Flucht aus Wien, allen amtlichen Verfügungen zum Trotz, weitgehend
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