Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
überlegen«, warnte er den Sohn des Ermordeten eindringlich. Ein unterschlagenes Beweisstück sei ein verlorenes Beweisstück.
    Gedankenversunken löste Nico die Metallklammer von den
    Seiten, was er bisher versäumt hatte. Von hinten nach vorne las er die Namen und Adressen von Kunden, die Bewertung und
    Beschreibung von Uhren mit ihren Wehwehchen, die Daten von Ab- und Rückgabe, von Rechnungslegung und Bezahlung, von
    Reklamationen und …
    Nico stutzte. Sein linker Daumen strich über einen kleinen blauen Punkt vor dem Namen eines gewissen Primo Machlin. Er halte im Februar 1929 den Bau einer aufwändigen Taschenuhr in Auftrag gegeben. Nico konnte sich aus zweierlei Gründen an 273
    den drahtigen kleinen Tuchhändler aus Anzio erinnern: Erstens gehörte er der jüdischen Gemeinde an und zweitens …
    Hektisch begann Nico in den Aktendeckeln zu wühlen. Er öffnete einen nach dem anderen, warf einen Blick hinein und legte ihn zur Seite. Endlich fand er die schwarze Mappe mit der ominö-
    sen Namenliste. Sein Finger hatte schnell den Eintrag gefunden, denn er befand sich weit oben auf der Liste.
    »Primo Machlin«, flüsterte er. »Ein vermögender Mann!«
    Jetzt ging Nico systematisch das Auftragsbuch seines Vaters durch. Seite für Seite verglich er die darin vermerkten Namen mit jenen auf der Liste und entdeckte dabei noch viele kleine blaue Punkte. Das Ergebnis war niederschmetternd.
    Die schwarze Liste des Massimiliano Manzini basierte auf dem Auftragsbuch seines Opfers Emanuele dei Rossi.
    Erst weiter hinten fanden sich andere Namen wie derjenige von Bruno Sacchi und Nico dei Rossi. Aus den Kommentaren in der Bemerkungsspalte ließ sich entnehmen, welchem »Makel«
    die inzwischen Gewarnten ihren Platz im Todesverzeichnis verdankten. Nach den Juden kamen Kommunisten und Sozialisten, Angehörige der Giustizia e Libertà oder anderer oppositioneller Bewegungen, aber auch Mitglieder religiöser Gruppen wie der Pfingstgemeinde oder Jehovas Zeugen waren aufgelistet, sogar Homosexuelle – alle, die das faschistische Regime per Gesetz und Verordnung gebrandmarkt hatte.
    »Alle?«, murmelte Nico. Was seine Glaubensgenossen an-
    betraf, kannte er sich noch ganz gut aus. In Gesprächen mit anderen Juden, die das Gros seiner Kunden ausmachten, hatten sich zwei von drei als erwerbslos entpuppt. Durch die Erlasse der faschistischen Regierung war ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden. Aber er konnte nicht sagen, ob Mussolini inzwischen tatsächlich alle in der schwarzen Liste aufgeführten Gruppen unter Bann gestellt hatte. Eines wusste er allerdings gewiss. Bei den Nationalsozialisten im so genannten Großdeutschen Reich waren sie geächtet …
    Ein ungeheuerlicher Gedanke drängte sich ihm auf. Unwillig 274
    schüttelte er den Kopf. Der Verdacht war absurd. Zugegeben, Manzini hatte wohl den einen oder anderen ausländischen
    Juden an Karl Hass, den SS-Spitzel aus der deutschen Botschaft, gemeldet, aber warum und vor allem wie sollte er die übrigen Nicht-Arier, Nicht-Faschisten oder Nicht-Heterosexuellen an Deutschland ausliefern? Selbst die am 15. Juni letzten Jahres verfügte Inhaftierung ausländischer und staatenloser Juden war keineswegs lückenlos umgesetzt worden. Es hätte schon einer Privatarmee bedurft …
    Erneut ließ ein Gedanke Nico innehalten. Er versuchte sich an den Inhalt der anderen Dokumentenmappen zu erinnern, die er im Juni 1940 ratlos gelesen und bald wieder beiseite gelegt hatte.
    Wahllos griff er sich einen braunen Pappdeckel vom Stapel und schlug ihn auf.
    »Fleischkonserven!«, schnaubte er. Manzini hatte Tausende Dosen davon eingekauft, außerdem auch Fisch, Erbseneintopf, Brühwürfel, Salz, Mehl – das Schriftstück las sich wie die Ein-kaufsliste einer mehrere hundert Köpfe starken Großfamilie.
    Damit ließ sich kein Krieg führen.
    »Zement?«, murmelte Nico beim nächsten Dokument. Fast
    kam es ihm so vor, als habe der Podestà von Nettunia einen Stau-damm bauen wollen, bei all den Baumaterialien, die er eingekauft hatte. Sogar zwei Bulldozer befanden sich auf der Wunschliste …
    Wessen Wunschliste? , lautete die nächste Frage, die in Nicos Kopf auftauchte. Als Gemeindemechaniker hatte er einen recht guten Überblick gehabt, was die Bauvorhaben in Nettunia anbe-traf. Da gab es Reparaturen an der Hafenmole, beim Krankenhaus, nicht zu vergessen der Uhrenturm des Palazzo Comunale, aber nichts, was einen derartigen Materialaufwand rechtfertigte.
    Ratlos schob Nico die Papiere

Weitere Kostenlose Bücher