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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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unbehelligt.
    Trastevere war ein Viertel mit noblen Palästen, verträumten Plätzen und verwinkelten Gassen, das eine Welt für sich dar-stellte – ideal für jemanden, der für eine Weile untertauchen wollte. Die Leute hier sprachen einen eigenen Dialekt und be-zeichneten sich selbst als Nachfahren der alten Römer. Schon mancher Aufstand war von hier ausgegangen. Auch nach Italiens Kriegseintritt hatte man im Quartier früher als anderswo das Aufflackern der inzwischen allseits zu spürenden antifaschistischen Stimmung bemerkt. Nachdem die Alliierten den Warenverkehr von und nach Italien blockiert hatten, begannen die Arbeiter und einfachen Leute zuerst unter dem wirtschaftlichen Druck und den daraus resultierenden Rationierungsmaßnahmen zu leiden.
    Die Umgehung dieser Restriktionen durch Vertreter der Regierung und der gesellschaftlichen Oberschicht heizte die regime-feindliche Stimmung noch zusätzlich an.
    Im März war der Unmut in einen Streik der Werktätigen
    umgeschlagen. Inzwischen hatte die italienische Armee an allen wichtigen Frontabschnitten im Ausland kapituliert. Die Divisio-271
    nen in Russland waren förmlich ausradiert worden. Mussolinis Stern begann zu sinken, und nirgendwo spürte man das stärker als hier in Trastevere.
    Nico legte nach alter Gewohnheit seine Hand über das Schloss in der Wohnungstür im dritten Stock. Es war zwar alt, aber vergleichsweise mitteilsam. Nein, niemand hatte sich während seiner Abwesenheit an ihm zu schaffen gemacht. Er öffnete die Tür und trat ein.
    In der Küche legte er die Schachtel mit der Breguet-Uhr von Signor Madesani auf den Tisch. Er verdrängte den Gedanken, schon bald in das Haus an der Via Tiburtina zurückkehren zu müssen.
    Dummerweise hatte er über all der Hektik vergessen, dem Kunden eine Nachricht zu hinterlassen.
    Nico stillte seinen Durst am Wasserhahn. Anschließend machte er sich an der gekachelten Wand zwischen Fenster und Herd zu schaffen. Die Fliesen verdeckten eine Geheimtür. Früher musste sich in der Nische dahinter eine Speisekammer befunden haben, aber er hatte dieses Versteck schon so vom Vormieter, einem bekennenden Kommunisten, übernommen. In dem fensterlosen
    Raum lag ein Jutesack, sonst nichts.
    Nico hob ihn auf, verschloss sorgfältig wieder die Öffnung und begab sich zum Esstisch, über dem er den Sack ausleerte. Achtlos ließ er den Beutel zu Boden fallen und sank auf den Küchenstuhl.
    Die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, den Kopf mit den Händen haltend, starrte er lange auf das braune Auftragsbuch und den wirr durcheinander gerutschten Stapel von Aktendeckeln. Der Hohlraum hinter der Geheimtür war nicht mehr sicher, keinesfalls bombensicher, machte er sich klar. Wenn die Alliierten den Duce erst wie einen räudigen Hund davongejagt hätten – für Nico lag dieser Zeitpunkt nicht mehr in weiter Ferne –, dann würde er diese Papiere brauchen.
    Er war ja ein zwar heimlicher, aber begeisterter Hörer des Auslandsprogramms der BBC. Seiner aus London stammenden
    Mutter hatte er es zu verdanken, dass er nicht nur die italie-nischsprachigen Sendungen mitverfolgen konnte, sondern auch 272
    die englischen. Am 10. Juli waren die Amerikaner und ihre Verbündeten auf Sizilien gelandet und eroberten inzwischen immer weitere Teile der Halbinsel. Jetzt, neun Tage später, fielen Bomben auf Rom. Bald würde sich das Blatt wenden und Massimiliano Manzini den Schutz der Obrigkeit verlieren.
    Langsam erwachte Nico aus seiner Versunkenheit und begab
    sich an die Untersuchung seiner Beute. Als Erstes öffnete er die Kladde bei dem metallenen Lesezeichen. Der Anblick des rotbrau-nen Daumenabdrucks ließ ihn unweigerlich frösteln.
    Natürlich hatte er die aus dem Palazzo Manzini entführten Dokumente schon vor drei Jahren gesichtet und an die Namen auf der mehrseitigen Liste seine Warnung ergehen lassen. Er hatte auch mit den wenigen Vertrauten, die er besaß, über den blutigen Abdruck gesprochen.
    Die Linien an den Fingerkuppen jedes Menschen auf der Erde seien einzigartig, hatte Meister Davide gesagt. Emanuele dei Rossi war wie sein Sohn ein sehr feingliedriger Mann gewesen. Der Größe des Abdrucks nach zu urteilen, stammte er von Manzinis Daumen. Lorenzo Di Marco war trotzdem dagegen gewesen, das Beweisstück zum Staatsanwalt zu tragen und damit aus den Händen zu geben. »Selbst wenn ein Wissenschaftler herausfinden könnte, wessen Blut an Don Massimilianos Händen geklebt hat, solltest du dir diesen Schritt gründlich

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