Der Herr der Unruhe
entweder erlöst, oder ich fühle endlich wieder was.
Nico hob beschwichtigend die Hand. »Wäre es Ihnen lieber, wenn das Kind zerrissen wird?«
Einige murmelten zustimmend.
»Sie werden uns alle in Gefahr bringen, wenn Sie jetzt da raus-gehen«, knurrte ein anderer.
»Machen Sie einfach die Tür hinter mir wieder zu«, antwortete Nico.
»Danke, Signore«, sagte die Mutter.
Nico brachte kein aufmunterndes Lächeln zustande. »Wenn
sie da draußen ist, finde ich sie«, war alles, was er zu ihrem Trost sagen konnte.
Drei Minuten später wandelte er im Chaos. Etliche Häuser in der Via Tiburtina brannten. Das Pflaster war mit Trümmern unterschiedlichster Größe übersät. Rauch verdunkelte den Himmel über den Dächern. Und der tödliche Hagel von dort oben hielt immer noch an. Menschen, die keinen Luftschutzraum gefunden hatten, liefen kreuz und quer über die Straße, manche durchaus zielstrebig, wenn sie in einem Hauseingang oder anderswo Deckung suchten, andere völlig kopflos dahintorkelnd. Ganz in der Nähe sah Nico einen reglosen Körper in einer großen Blutlache liegen. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.
Er lief, während er unablässig ihren Namen rief, in Richtung der Basilika San Lorenzo fuori le Mura, aus der ebenfalls Flammen schlugen. Sein Blick war von Tränen verschleiert, er hätte nicht sagen können, ob vom beißenden Qualm oder der Verzweiflung über den unbegreiflichen Anblick, der sich ihm bot. Ein Angst erregendes Pfeifen ertönte. Sofort ließ er sich auf den Boden fallen. Dann krachte es so laut, dass er fürchtete, seine Trommelfelle würden platzen. Putz und Steine rieselten auf ihn herab.
»Nina!«, brüllte er. Die eigene Stimme dröhnte dumpf in seinem Kopf. Vielleicht hätte er der Mutter doch kein so leichtfertiges Versprechen geben sollen.
Plötzlich blieb sein Blick an einem umgestürzten, oben offenen Lieferwagen hängen. War da nicht eben eine Bewegung gewesen, 267
ein helles Aufleuchten aus pastellfarbenem Licht? Nico schätzte die Entfernung bis zum Fahrzeug auf mindestens sechzig Meter. Die Ladung hatte aus Wassermelonen bestanden, die nun – bizarrer-weise bis auf einige wenige völlig unversehrt – das Bild der Verwüstung mit grün-gelben Tupfern dekorierten. Er begann zu laufen.
Bei einem lichterloh brennenden Haus musste er auf die andere Straßenseite ausweichen, weil die Hitze jeden, der ihr zu nahe kam, hätte in Flammen aufgehen lassen. Fast wäre er dabei zu Fall gekommen. Sein Fuß stieß gegen den Schädel der immer noch schwelenden Leiche eines Menschen – er wusste nicht, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war. Halb blind taumelte er weiter.
Die Kakophonie aus Bombeneinschlägen, dem Bersten einstürzender Mauern, dem Prasseln der Flammen und dem Schreien verzweifelter und verletzter Menschen war ohrenbetäubend. Trotzdem glaubte Nico ein leises Greinen zu vernehmen, als der umgestürzte Kleinlastwagen nur noch wenige Meter entfernt war. Mit jedem Schritt wurde die jammernde Stimme lauter. Und dann sah er es.
Das kleine Mädchen saß hinter der Ladefläche, mit dem Po
auf dem Pflaster, die Beine lang ausgestreckt, rieb sich mit den Händchen unentwegt die Augen und heulte sich die Seele aus dem Leib. Sein linkes Bein war unter der Heckflosse einer großen Bombe eingeklemmt.
»Allmächtiger!«, stieß Nico hervor. Im Nu war er bei der Kleinen und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Du bist Nina, nicht wahr?«
Ihr Weinen ging in ein Schluchzen über, und sie nickte. Nico konnte erkennen, dass der Stabilisator des Sprengkörpers zwar die Haut an ihrem Oberschenkel geritzt hatte, aber nicht ins Fleisch eingedrungen war. Das war die gute Nachricht.
»Tut es sehr weh, Nina?«
Sie schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.
»Hör mir zu, meine Kleine. Bleib ganz ruhig so sitzen. Deine Mama hat mich geschickt. Ich werde dich zu ihr bringen. Nachdem ich das schwere Ding da zur Seite geräumt habe. Lass mich nur einen Moment nachdenken.«
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Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Na, dann lass dir mal was einfallen und zwar schnell! Es gab schon genug Erschütterungen im Umkreis, aber er befürchtete das Schlimmste, wenn er jetzt auch noch die Lage der Bombe veränderte. Zunächst versuchte Nico zu begreifen, was überhaupt geschehen war. Er streichelte Ninas Wange und sah sich um. Unweit entdeckte er einen abgerissenen Balkon und darunter ein auffälliges Loch in der Hauswand, beide Schäden schienen nicht von einer Explosion
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