Der Herr der Unruhe
Vertrauensbeweis, das überaus wertvolle Stück reparieren zu dürfen. Meister Davide hatte den Kunden an ihn verwiesen. Seit seiner Flucht aus Nettunia vor drei Jahren hielt Nico sich mit solchen Aufträgen über Wasser.
Viel Geld brauchte er ohnehin nicht. Zum einen waren die Lebensmittel rationiert, und auf der anderen Seite reizten ihn weder Vergnügungen noch andere Extravaganzen. Als er – von Laura ab-gewiesen – aus seiner Geburtsstadt nach Rom geflohen war, hatte er versäumt, sein Lachen mitzunehmen.
Er bewunderte immer noch die Breguet-Uhr, als er plötzlich das Heulen von Sirenen hörte. Besorgt spähte er durch das Fenster zum Himmel hinauf. Er musste an das Radioprogramm der BBC denken, das er vor drei Tagen in seiner Wohnung verfolgt hatte. Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill forderten das italienische Volk in der Sendung zur Kapitulation auf, »um eine größere Vernichtung zu verhindern«. Vorgestern hatte sich dann Sirenengeheul über die Dächer der Stadt erhoben und endgültig 262
die Illusion vertrieben, der zweite große Krieg des Jahrhunderts werde die Ewige Stadt verschonen. Die Menschen waren verstört in die Luftschutzkeller gerannt, aber keine Bomben fielen vom Himmel, sondern nur Papier. Auf den Flugblättern wurde die Bevölkerung über einen möglichen Angriff auf militärische Ein-richtungen in der Nähe Roms informiert. Die Verfasser beteuerten jedoch, sie würden mit größtmöglicher Mühe die Vernichtung von Privatgebäuden und Kulturdenkmälern zu vermeiden suchen.
Und jetzt näherten sich ganze Schwärme von Bombern.
Einen Moment lang war Nico wie versteinert. Ihn lähmte weniger der Anblick der kleinen Punkte, die ab und zu in den Wolken auftauchten, sondern vielmehr das tiefe Gedröhn der Motoren. Als von der Straße Schreie an sein Ohr drangen, fiel die Starre langsam von ihm ab, und als ihm der Kurs der todbringenden Himmelsarmada bewusst wurde, begann er zu laufen. Die Kampf-flugzeuge hielten direkt auf das römische Viertel San Lorenzo zu.
Im Erdgeschoss wurde er von einem Strom von Menschen
mitgerissen, nicht hinaus auf die Straße, sondern hinunter in den Keller. Wenig später saß er, eingekeilt zwischen einer zahnlosen Alten und einem stoppelbärtigen, nach Fisch riechendem Mittvierziger, auf einer grob gezimmerten Holzbank und betete. Vor dem einzigen Fenster des muffigen Gewölbes lagen nicht einmal Sandsäcke. Er wollte sich lieber gar nicht erst vorstellen, was geschähe, wenn eine Bombe auch nur in der Nähe des Hauses explodierte.
Die Frauen, Kinder und Männer saßen und standen dicht an-
einander gedrängt. Aus verschiedenen Ecken des großen Raumes ertönte Wimmern und Schluchzen, vereinzelt auch ein gemurmeltes Gebet. Ein kleines Mädchen schrie wie am Spieß. Der Mann mit dem Fischgeruch beschwerte sich, bis ihm ein kräftig gebauter Straßenarbeiter übers Maul fuhr. Alle hofften, der brummende Schwarm möge vorüberziehen.
Wer Nico in diesem Moment beobachtete, mochte sich über
die scheinbare Teilnahmslosigkeit des stillen Mannes wundern, der durch seinen Vollbart und die Nickelbrille älter aussah, als 263
er tatsächlich war. Sein Gesicht zeigte keine Regung, sein glasiger Blick war auf den Boden gerichtet, seine Gedanken trieben träge dahin. Vor auf den Tag genau siebenunddreißig Monaten war er der Spinne Phlegma ins Netz gegangen. Anfangs hatte er sich noch gewehrt, wie jedes Insekt es tut, dem dergleichen widerfährt. Die im Palazzo Manzini gefundene Namenliste hatte ihn an seinen Vorsatz erinnert, nie wieder durch Passivität zum Leid anderer beizutragen. Also rief er zuerst Meister Davide in Rom an und legte ihm nahe, mit seiner Frau wieder einmal die Verwandten in Sardinien zu besuchen – man konnte ja nicht wissen, ob Don Massimiliano beim Anblick seines ausgeräumten Tresors nicht sofort wieder Mordpläne schmiedete. Anschließend strampelte sich Nico für Menschen ab, von denen er die meisten nicht einmal kannte.
Tagsüber versteckte er sich im weitläufigen Park der Villa Borghese, und nachts zog er durch die Straßen von Nettunia, um Zettel unter Wohnungstüren hindurchzuschieben. Der Inhalt war, abgesehen von wenigen Variationen, vierundfünfzig Mal der gleiche.
Ihr Leben ist in Gefahr! Massimiliano Manzini hat Sie und Ihre Angehörigen auf einer schwarzen Liste erfasst, die bis zu dem ermordeten Uhrmachermeister Emanuele dei Rossi zurückreicht.
Auch die kürzlich verschleppte Familie Katz ist in dem Register
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