Der Herr der Unruhe
nach Sonnenuntergang erreichte er die
Piazza Battisti. Im Schutze der nun endlich eingekehrten Dunkelheit überredete er das Schloss im Hauptportal der Stiftskirche zur Kooperation. Gerne hätte er einen der drei Nebeneingänge gewählt, aber man hatte – wohl zum Schutz des Gotteshauses vor Einschlägen – alle Türen und Fenster mit Brettern zugenagelt.
Dem gelben Lichtkegel einer Handlampe folgend, drang er über die Krypta in die Höhlen ein. Ein Stück Kreide sollte ihn davor bewahren, die Orientierung zu verlieren, wie es seinerzeit Donatello, dem Kammerdiener des verstorbenen Barons, ergangen war.
Nun schlich Nico allein durch die stille, kühle Finsternis. Die schmale Nische, die den Durchlass zur Grabkammer verbarg, lag noch nicht lange hinter ihm, als ihn aus der Dunkelheit plötzlich kräftige Hände am Kragen packten.
»Wer bist du?«
»Niklas Michel?« Die Antwort war als erstes Verhandlungsangebot gedacht. Andere Namen konnte er immer noch nachschieben. Aber das war nicht nötig. Die Hände ließen ihn augenblicklich los.
»Der Walzenbändiger?«
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Nico drehte sich um und leuchtete in das kantige Gesicht
eines nicht sehr schmächtigen Mannes, das ihm gut bekannt war.
»Der Böttcher?«
In Friedenszeiten baute Flavio Salvini Fässer, ein in Nettuno traditionelles Handwerk. Im Augenblick bewachte er den Platz der Getreidebrunnen, vielmehr das, was davon im Gestein unter den Häusern noch übrig war. Sein vorspringendes Kinn und die wulstigen Augenbrauen, verliehen ihm ein hinreichend abschre-ckendes Aussehen.
Salvini führte den Besucher in den großen, von Kerzen er-
leuchteten Hauptraum, wo Nico von mehreren Dutzend Männern und Frauen empfangen wurde.
»Die Deutschen wollten uns vertreiben, aber Nettuno ist unser Zuhause«, begründete der Böttcher die unterirdische Kolonie.
»Sind der ehemalige Leibdiener von Don Alberto und Signora Pallotta auch hier?«
»Schon lange nicht mehr«, sagte eine Frau, die Nico nicht kannte. Sie schob sich zwischen zwei Männern hindurch nach vorn. »Donatello und Emma haben sich im November zu Verwandten in die Castelli aufgemacht. Wir sind die Letzten, die hier ausharren, bis die Alliierten kommen, Don Niklas.«
»Bitte nennen Sie mich nicht so«, erwiderte er. »Erstens bin ich kein feiner Herr, und zweitens ist mein Name dei Rossi. Nico dei Rossi.«
»Aber so hieß doch der Uhrmacher, der damals – ich weiß
nicht mehr wann – ermordet wurde?«, fiel ein weiterer Höhlen-bewohner ein.
Nico nickte. »Am 2. April 1932. Ich habe die Bluttat mit ansehen müssen. Emanuele dei Rossi war mein Vater.«
Gemurmel sprang wie ein Lauffeuer von einem zum anderen
und wurde von den Wänden dumpf zurückgeworfen. Die Un-
bekannte trat zu ihm heran und nahm seine Hand. Es war eine Frau Ende vierzig mit dunkelbraunem, grau meliertem Haar und großen, wässrig schimmernden Augen. »Wer tut so etwas, raubt einem Kind seinen Vater?«
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»Sie alle kennen den Mörder. Er heißt Massimiliano Man-
zini.«
Aus dem Murmeln wurde ein erregtes Geraune.
»Hab ich mir gleich gedacht«, brummte jemand.
»Den Fischer, dessen Schädel im April ’40 zwischen zwei
Schiffen zerquetscht wurde, hat er bestimmt auch umbringen lassen«, rief ein anderer von hinten.
»Ich sage euch, der Podestà hat ’ne Menge Dreck am Stecken«, stimmte ein weiterer zu.
»Bitte helfen Sie uns, Don Nico«, flehte die Frau, die noch immer seine Hand hielt.
»Ich wüsste nicht, was ich für Sie tun kann.«
»Don Massimiliano lässt uns hungern, damit es den Deut-
schen gut geht. Er verkauft unser Blut, um sich zu bereichern.
Gehen Sie in den Palast da über uns, und schaffen Sie uns dieses Ungeheuer vom Hals.«
»Manzini ist der Schlächter, gute Frau, nicht ich.«
Flavio Salvini sagte: »Heute habe ich amerikanische Jagdbomber am Himmel gesehen. Die Deutschen müssen früher oder spä-
ter vor den Alliierten zurückweichen. Dann machen wir Sie zum Bürgermeister.«
»Mich?« Nico musste lachen. »Ich bin nur ein Uhrmacher, der in den letzten Monaten viel zu selten sein Handwerk ausführen durfte.«
»Nein, Sie sind ein Mann, der immer für uns da war, wenn wir Hilfe brauchten.«
»Und ein Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Genau
der Richtige, um unsere Stadt wieder erblühen zu lassen«, fügte die anhängliche Frau hinzu.
Ringsum brach Jubel aus, der Nicos Unbehagen mit einer Gän-sehaut überzog.
»Seid still, oder wollt ihr, dass die Deutschen uns hören?«,
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