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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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herumlaufen.«
    »Immerhin haben wir in der Città ein paar hundert Verfolgte untergebracht. Aber du solltest mal nach Castel Gandolfo kommen, da verstecken sich so um die achttausend, die meisten davon sind Juden.«
    »Ich hörte, den Oberrabbiner hat die SS bis heute nicht bekommen?«
    »Nein. Himmler kann sich mit den einhunderttausend Lire,
    die er auf den Kopf von Professor Zolli ausgesetzt hat, ein Erste-Klasse-Billet in die Hölle kaufen.«
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    »Ich möchte dir für alles danken, Lorenzo.«
    »Oh, bitte nicht, Nico! Ich habe vielleicht – mit deiner Hilfe, wohlgemerkt – einen kleinen Kiesel ins Rollen gebracht, aber die Lawine der Hilfsbereitschaft besteht aus vielen Steinen. Ich bedaure zutiefst, dass der Heilige Stuhl sich erst so spät zu hand-festen Maßnahmen durchringen konnte.«
    » A propos Hilfe.« Nicos Blick schweifte zu der Regalwand, die sich rechts von Lorenzos Eichenschreibtisch bis zur Decke zog.
    »Hast du ein Exemplar der Göttlichen Komödie hier? Meins muss noch in Albinos Satteltasche stecken.«
    »Natürlich«, antwortete Lorenzo so selbstverständlich, als habe sein Besucher ihn nach der Bibel gefragt. Behände sprang er von seinem Sitz hoch, eilte zu dem Regal, griff zielsicher hinein und kehrte mit einem dünnen Büchlein – offensichtlich eine un-kommentierte Ausgabe – zurück.
    Nico nahm den braunen Ledereinband mit einem Nicken ent-
    gegen und begann sofort darin herumzublättern.
    »Was suchst du?«, fragte der Mönch.
    »Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Eigentlich war es eine Erinnerung an ein Gespräch, das ich vor fast sechs Jahren mit meinem Meister in Wien geführt hatte. Er sagte da etwas, das mir den ganzen Morgen schon durch den Sinn geht. Gleich hab ich ’s.«
    »Sprichst du von dem Dante-Zitat, das dein Vater in Manzinis Lebensuhr geprägt hat?«
    »Ja. Purgatorio, vierter Gesang, dritte Strophe.«
    »Kennst du es nicht längst auswendig?«
    »Selbstverständlich. Aber ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Und transparent werden lassen.«
    »Bitte keinen Kaffee in das Buch schütten. Es ist fast hundertfünfzig Jahre alt.«
    Nico sah verdutzt von den vergilbten Seiten auf. Inzwischen hatte er die gesuchte Stelle gefunden.
    Lorenzo grinste wie ein großer Junge, dem gerade ein famoser Streich gelungen war. »Nur ein Scherz. Was siehst du?«
    Nico erstarrte, als er die letzte Zeile des besagten Verses las.
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    vassene il tempo e l’uom non se n’avvede

    In seinem Kopf wurde ein Schleier fortgeweht, unter dem er bereits Konturen erahnt hatte, die jetzt unvermittelt enthüllt wurden. Ihm stockte der Atem. Sein Finger legte sich auf ein einzelnes Wort. »Das gibt es nicht!«
    »Hast du etwas gefunden?«
    »›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht‹«, murmelte Nico, als könne nur sein Ohr die Echtheit der Entdeckung prüfen.
    Lorenzo erhob sich, um neben seinen Freund zu treten und
    die betreffenden Worte selbst zu lesen. Er schüttelte den Kopf.
    »Ja, und?«
    Nico wandte ihm das Gesicht zu. Er sah aus, als hätte er gerade eine unfassliche Vision erblickt. »Es … es war die ganze Zeit da«, stammelte er, »und ich habe es nicht gesehen.«

    Am 1. Januar 1944 war allenfalls den Deutschen und ihren Parteigängern zum Feiern zumute. Als Vittorio Abbado seinen Gast empfing, wirkte er fahrig, so als könnten ihm durch das Scheren-gitter des Fahrstuhls jeden Augenblick braune Ungeheuer an die Kehle springen. Aber es war nur Nico, der vor der Wohnungstür im vierten Stock des ehrwürdigen Hauses am Lungotevere Michelangelo stand.
    »Kommen Sie schnell herein«, sagte die rechte Hand jenes
    Staatsanwaltes, der den berüchtigten Fürsten Tringali Casanova abgelöst hatte und inzwischen selbst seines Amt enthoben war.
    Nico trat in die Wohnung. Eine hohe Tür glitt leise hinter ihm ins Schloss. »Es tut mir Leid, dass man Sie in die Registratur verbannt hat, Signor Abbado.«
    »Besser in den Keller des Justizpalastes als in den der deutschen Sektion von Regina Coeli .« Der Beamte bemerkte den verständnislosen Ausdruck auf Nicos Gesicht und fügte erklärend hinzu. »Wenn die Besatzer der Stadt den Drang verspüren, jemanden zu foltern, dann bringen sie ihn in dieses Gefängnis. Mich hat 383
    man zum Glück nur für einen unbedeutenden Aktenentstauber gehalten, deshalb durfte ich bleiben.«
    »Womit wir beim Thema wären. Haben Sie die Gerichtsproto-
    kolle ausfindig machen können?«
    »Ja. Und Sie hatten Recht. Beide Male taucht derselbe Name

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