Der Herr der Unruhe
dass die Malaria völlig ausheilen könnte. Freilich müsse der erstaunliche Patient noch einige Monate mit Rückfällen rechnen.
Nico dachte gar nicht daran, sich zwei Jahre lang von Schüttelfrost und Fieber an die Vatikanstadt binden zu lassen.
Magdalena wirkte sogar erleichtert, als er darum bat, Fra Lorenzo in seiner Amtsstube besuchen zu dürfen. Nicos Genörgel in letzter Zeit stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. Der Re-konvaleszent wurde von einem Schweizergardisten abgeholt, weil die neue Offenheit des Heiligen Stuhls gegenüber den Verfolgten sich nicht auf alle Räumlichkeiten erstreckte. Nicos Ein-Mann-Eskorte war Adrian Isenring, jener junge, hoch aufgeschossene, braunhaarige Wachtmeister, der ihn am 16. Oktober hinter der verborgenen Pforte in Empfang genommen hatte. Irgendwie
fühlte sich Adrian seit diesem Tag für den Geretteten verantwortlich und schaute in seiner dienstfreien Zeit immer mal wieder im Krankenzimmer vorbei. Inzwischen waren neuneinhalb Wochen vergangen, und die zwei waren Freunde geworden.
»Manchmal kommt es mir vor wie ein Wink des Schicksals«,
sagte der aus dem Kanton Zug stammende Gardist.
»Was?« Kalter Schweiß stand auf Nicos Stirn. Sein Begleiter 379
lief viel zu schnell durch die hallenden Flure und Säle. In den Räumen herrschte eine überraschende Betriebsamkeit.
»Dass du den deutschen Häschern als Niklas Michel entkom-
men bist. Einer der Schutzheiligen der Schweizergarde ist Niklaus von Flüe.«
»Ich habe eher den Eindruck, das genaue Gegenteil von einem Schutzheiligen zu sein. Mir fehlt schon fast der Mut, irgendje-manden gern zu haben, weil mich das Gefühl bedrängt, er müsste dann sterben.«
»Du hast Furchtbares durchgemacht, aber das war nicht deine Schuld, Nico. Mein Vater sagte immer: ›Ein Leben ohne Freunde ist wie ein Nachthimmel ohne Sterne.‹«
»Düster und leer«, murmelte Nico, fügte jedoch sofort lauter hinzu: »Was liegt dir an mir, Adrian?«
Der junge Wachtmeister hob die Schultern. »Weiß nicht. Ich kann Deutsch mit dir reden.«
»Haha! Wenn ich mich nicht irre, dann hast du noch ein-
hundertundneun Kameraden, von denen die meisten ebenfalls Deutsch sprechen.«
»Du hast die sechs Offiziere vergessen.« Adrian grinste breit.
»Ohne Scherz, Nico. Ich rede gerne mit dir. Du bist ganz anders als meine fünf Brüder.«
»Ja, ich bin ein Jude.«
»Soll ich dich dafür etwa verachten? Der heilige Petrus sagt:
›Ehret Menschen von allen Arten.‹ Ich glaube nicht, dass er dabei Juden aussparen wollte.«
»Kaum denkbar. Er war ja selbst einer.«
Beide lachten. Nico empfand große Erleichterung, als sie endlich vor einer großen Tür stehen blieben; seine Beine fühlten sich wie weiches Wachs an. Offenbar hatte er seine Kräfte überschätzt.
Von Lorenzo wusste er nur, dass er zwei Päpsten als Berater gedient hatte, aber was so ein weiser Mönch tat, wenn er nicht gerade neben seinem Oberhirten stand und ihm weltbewegende Dinge ins Ohr flüsterte, entzog sich seiner Vorstellungskraft.
Nachdem Adrian den Besucher gemeldet hatte, durfte Nico
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eintreten. Der Gardist bezog auf dem Flur Posten. Lorenzo empfing seinen jungen Freund mit ausgebreiteten Armen, führte ihn zu einem bequemen Stuhl mit Armlehnen und goss ihm aus einer bereitstehenden Kanne eine Tasse Kaffee ein.
»Du bist noch etwas blass um die Nase, aber für einen moritu-rus siehst du schon wieder ganz gut aus.«
»Bedeutet das nicht ›Todgeweihter‹?«
»Inzwischen kann ich darüber lachen, aber als ich mit dem Papst an deinem Krankenbett stand und mir bewusst wurde, dass meine unbedachte Äußerung dir buchstäblich einen Mordsschre-cken eingejagt haben muss, da ist mir richtig übel geworden. Entschuldige noch mal.«
»Schon vergessen. Auf dem Weg hierher habe ich mich übri-
gens über die Hektik auf den Gängen und Fluren gewundert. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Heute ist der 21. Dezember, mein Freund. In drei Tagen fängt das Weihnachtsbrimborium an.«
»Du bist ein komischer Mönch, weißt du? Wir Juden feiern
kein Weihnachten. Würde ich so reden wie du, dann wäre das ja noch verständlich.«
»Das ist es ja! Irgendjemand in der Kurie scheint die Ansicht zu vertreten, dass man sich die Herzen der neuen ›Einwanderer‹
mit Tannenbäumen erschließen kann, anstatt ihnen ein friedliches Chanukka zu ermöglichen.«
»Wahrscheinlich hält man den Aufwand für übertrieben bei
den paar Jarmulketrägern, die hier
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