Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
auf.«
    »Das heißt, Giacomo Matteotti wurde, wie ich vermutet hatte, vor dem Mord schon einmal tätlich angegriffen?«
    »Sie sagen es. Leider konnte ich die Protokolle nicht mitbrin-gen, aber ich habe aus dem Gedächtnis ein paar Notizen für Sie angefertigt.«
    »Angeblich wurde der Täter nie gefunden.«
    »Das ist richtig. Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei wurde am 10. Juni 1924 in ein Auto gezerrt und anschließend erschossen aufgefunden. Noch am selben Tag nahm die Polizei einen Verdächtigen fest, ließ ihn aber später wieder laufen. Als das Gerücht laut wurde, der Duce habe persönlich die Liquidation seines unbequemen Rivalen befohlen, befleißigte er sich zu einer vehementen Verurteilung des Verbrechens. Damit war die Sache im Wesentlichen vom Tisch. Zwar sind die Abgeordneten der Opposition mit Ausnahme einiger Liberaler und Kommunisten aus der Kammer auf dem Aventin ausgezogen, aber letztendlich brachte die Krise nur einen Sieger hervor: Benito Mussolini.«
    Nico blickte mit glasigen Augen auf den Briefumschlag, den Abbado ihm hinhielt, und murmelte: »›Du bist nicht schlecht dabei gefahren, Benito. Diesmal wird es genauso sein.‹«
    »Wie bitte?«
    »Nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, das mir ein Freund erzählte.«
    »Ach so. Hören Sie, Signor dei Rossi. Wenn es ihnen nichts ausmacht …«
    »Ja, ja, Signor Abbado. Ich verschwinde wieder – so leise und unauffällig, wie ich gekommen bin. Noch einmal vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
    »Gerne. Vielleicht kann ich auf diese Weise ein wenig wettma-384
    chen, dass ich in all den Jahren zu feige war, um mich offen gegen die Diktatoren zu stellen, die unser Land in einen Scherbenhau-fen verwandelt haben.«
    Nico winkte mit dem Kuvert. »Ich finde, in den letzten Tagen haben Sie viel Mut bewiesen.«
    Abbado lächelte verlegen. »Danke. Es könnte sich lohnen.
    Wenn sich Ihr Verdacht bestätigt, dann wäre das eine Sensation.«

    Nettunia war zu einer Geisterstadt geworden. Die Wehrmacht hatte die Menschen erst einen und wenig später sogar fünf Kilometer von der Küste weg ins Landesinnere getrieben. Tausende von Menschen hausten unter erbärmlichen Verhältnissen zusammengepfercht in Bauernhäusern, Scheunen, Ställen oder in über-großen »Kisten« aus Sperrholz, die den Faschisten ursprünglich als Unterstände zur Bewachung der Küste hatten dienen sollen, die sich nun aber im Campana-Pinienwald reihten. Ein paar Bä-
    cker, der Barbier und wenige andere Einwohner der Stadt hatten bleiben dürfen, um das leibliche Wohl der deutschen Posten si-cherzustellen. Und dann gab es noch die Unterirdischen.
    Nico traf einen Tag nach dem Gespräch mit Vittorio Abbado in der Stadt ein. Es war der Abend des 2. Januar, ein Sonntag. Sein Motorrad hatte er im Park der Villa Borghese versteckt. Obwohl die Straßen, Plätze und Gassen wie leer gefegt waren, zweifelte er nicht daran, dass hinter den Fenstern irgendwo deutsche Späher lauerten. Vielleicht sogar Scharfschützen? Vom Kriegshandwerk verstand er nichts, aber er konnte hören, wie die Front näher rückte. Vom Osten, wo die Lepini-Berge lagen, hallten die lang gezogenen Echos der Bombardierungen herüber.
    Wäre es nach Doktor Bartoletti, dem vatikanischen Arzt, gegangen, dann läge er immer noch in einem vatikanischen Bett, gefesselt an ein vatikanisches Rohrgestell. »Sie sind noch längst nicht wieder bei Kräften. Es wird Rückschläge geben, das kann ich ihnen voraussagen.« Der erste Teil seiner Prophezeiung traf bereits ein. Nico fühlte sich ausgepumpt wie schon lange nicht mehr.
    385
    Er überlegte, ob er nicht doch lieber erst zum Torre Astura hätte fahren sollen. In seiner Tasche steckte ein Dokument des vatikanischen Kurienamtes für außerterritoriale Liegenschaften, unterzeichnet von Ugo Buitoni, der schon Johan und Lea Mezei Unterschlupf gewährt hatte und wegen ihres Schicksals untröstlich gewesen war. »Ich kann Ihnen allerdings den Schlüssel nicht geben«, hatte der Beamte gesagt und sich über Nicos Antwort ein wenig gewundert: »Das macht nichts. Ich freunde mich gerne mit fremden Schlössern an.«
    Jetzt schlich er also durch die ausgestorbenen Gassen und wünschte sich, es wäre schon ein wenig dunkler. Er wollte sein Versteck südlich von Nettuno nicht beziehen, bevor er etwas herausgefunden hatte, das für seine weiteren Pläne sehr wichtig war.
    Dazu musste er ungesehen ins Herz der mittelalterlichen Stadt gelangen.
    Etwa eine Stunde

Weitere Kostenlose Bücher