Der Herr der Unruhe
sich wohl um einen Mann handeln, also sonderte er alle Frauen aus. Zwei Polizisten und einen Mönch in schwarzer Kutte ließ er ebenfalls außer Acht. Blieben immer noch sieben oder acht Herren, deren Äußeres er nach Hinweisen auf Verschla-genheit oder sonstige verräterische Merkmale absuchte.
Derweil war der Mönch an der Seite Davides stehen geblie-
ben und bewunderte scheinbar die Schönheiten des Platzes. Mit einem Mal raunte der Goldschmied: »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Bruder Lorenzo.«
Dem Jungen verschlug es die Sprache. Ein katholischer
Mönch? Und Meister Davide nannte ihn Bruder ?
Argwöhnisch musterte Nico den Fremden. Er mochte Ende
zwanzig sein. Zwar hatte der trotz Kutte erkennbar schlanke Mann das schmale Gesicht eines großen Jungen, aber aus seinen Bewegungen sprach alles andere als jugendlicher Übermut. Sie wirkten kontrolliert, und seine braunen Augen waren ständig in Bewegung, als prüften sie jedes Fenster, jede Person auf dem Platz. Ohne den Goldschmied anzusehen, begann der Mönch mit sanfter, melodischer Stimme zu sprechen.
» Ciao, Davide. Ihr junger Freund macht mir einen ziemlich verstörten Eindruck.« Der Mönch lächelte auf eine ungezwun-gene Weise, die Nico verwirrte. Es sah so ehrlich aus!
Hingebungsvoll betrachtete der Goldschmied den kleinen
Wasserfall, der aus einem Schlitz unter der rechten Fußsohle von Signor Nil hervorsprudelte. »Wie ich Ihnen schon sagte: Der Junge hat Schreckliches erlebt und schwebt nach wie vor in gro-
ßer Gefahr. Er muss dringend in Sicherheit gebracht werden.«
»Offen gestanden halte ich die von Ihnen am Telefon angedeutete Lösung für problematisch. Ich könnte Ihnen helfen, Ihren Schützling nach Argentinien zu bringen.«
»Nico ist doch noch ein Kind. In Südamerika hat er niemanden, der sich um ihn kümmern kann. Vielleicht muss er ja auch 51
gar nicht für lange untertauchen. Wir haben heute seine Zeugenaussage aufgeschrieben und an die Staatsanwaltschaft geschickt.
Dadurch könnte sich für ihn alles zum Guten wenden. Ich
möchte nur, dass Sie den Jungen in der Zwischenzeit an einem sicheren Ort verstecken.«
Zum ersten Mal verharrte der Blick des Ordensmannes einen Herzschlag lang auf Davides Gesicht. »Warum habe ich das Ge-fühl, dass Sie mit dem Schlimmsten rechnen, mein Freund?«
Der Goldschmied zog eine Grimasse. »Weil Sie ein guter Men-schenkenner sind, Pater. Und weil es stimmt. Ich habe für Sie hier einige Instruktionen aufgeschrieben …«
»Nicht so auffällig!«, zischte der Mönch.
Davide hatte gerade einen Umschlag aus der Brusttasche
seines Jacketts ziehen wollen, steckte ihn aber schnell wieder zurück. »Wie sollen wir ’s machen?«
»Ich nehme an, Sie wollen sich von dem Jungen verabschie-
den.«
»Natürlich.«
»Dann legen Sie Ihren Arm um ihn. Wenden Sie sich gemein-
sam dem Brunnen zu und gestikulieren Sie mit der Hand, als würden Sie ihm die Signori Donau, Ganges und die anderen Ströme erklären. Dabei stecken Sie ihm das Kuvert zu. Dann gehen Sie.
So als würden Sie nur kurz etwas besorgen. Haben Sie alles verstanden?«
Davide legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Ja.«
Der Mönch richtete nun das Wort an seinen neuen Schutzbe-
fohlenen. »Jetzt zu dir, Nico. Das ist doch dein richtiger Name, nicht wahr? – Schau geradeaus !«
Der Gefragte hatte den Mann in der schwarzen Kutte ansehen wollen, aber dessen strenge Mahnung ließ seine Augen schnell wieder zur Statue mit dem verhüllten Kopf zurückspringen. Nico deutete ein Nicken an.
»Ich bin Lorenzo Di Marco. Vermutlich fällt es dir schwer, einen Benediktiner als Pater oder Bruder anzureden. Sag einfach Lorenzo zu mir. Ich bin dein Freund.«
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Warum muss er das besonders erwähnen?, fragte sich der Junge und schwieg.
Auch der Mönch vertiefte sich nun in die Betrachtung von
Gevatter Nil und raunte dabei, fast ohne die Lippen zu bewegen:
»Also, hör mir gut zu, Nico. Ich werde einige Zeit, nachdem dein Freund gegangen ist, in dieselbe Richtung verschwinden, aus der ich gekommen bin. Du wartest, bis ich die Piazza verlassen habe, und folgst mir dann. Auf keinen Fall darfst du rennen. Behalte einfach den Abstand und folge mir. Auch wenn du Zweifel haben magst, bleib nicht stehen. Gehe einfach weiter. Alles klar?«
Nico zögerte. Die Anweisungen kamen ihm mehr als seltsam
vor. Welche Zweifel meinte der Ordensmann? Hatte er auf das Misstrauen angespielt, das einen jüdischen Jungen unweigerlich
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