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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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derweil einmütig mit der Überprüfung seiner Gewehre begonnen. »Geben Sie mir Ihre Dienstwaffe«, verlangte Kaltenreutter.
    Plötzlich schwoll über ihren Köpfen ein ohrenbetäubendes
    Dröhnen an. Alle blickten nach oben. Von Norden raste dicht über dem Boden ein Kampfflugzeug heran. Nico sah einen
    weißen Stern auf blauem Grund. Es war ein Amerikaner, eine Spitfire.
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    Kurz bevor der Jäger das Exekutionskommando erreichte,
    aktivierte er die beiden Bordkanonen. Irrwitzigerweise blitzte in Nicos Kopf das Bild eines über die Donau hüpfenden Steines auf, als er die zwei Einschussreihen auf einen überraschten Haufen von Soldaten zujagen sah. Die Partisanen drückten sich an die Felswand, um dem tödlichen Hagel zu entgehen. Einige Exekutanten ließen sich noch auf den Boden fallen, bevor die Salve durch sie hindurchfegte.
    Nico drückte Lauras Gesicht an seine Brust und schützte
    sie mit seinen Armen, so gut es ging. Fassungslos starrte er auf die blutige Saat eines einzigen Luftangriffs. Die großkalibrigen Kanonen des Jägers hatten einige Männer buchstäblich entzweigerissen. Für Sekunden machte ihn der Schock taub. Die Schreie der Verwundeten, die fliehenden Überlebenden, alles schien ihm seltsam fern. Wie in einer Wochenschau mit zu leise eingestell-tem Ton.
    »Kommt!«, hörte er plötzlich neben sich Bruno schreien.
    Es war, als erwachte Nico aus einem furchtbaren Albtraum, nur um sofort in den nächsten zu gleiten. Mit einem Mal war wieder alles da: die Schreie der Verletzten, die wie Peitschenhiebe knallende Dienstwaffe von Feldwebel Hurz, der tatsächlich zu glauben schien, mit seiner Pistole ein Kampfflugzeug abschießen zu können, und der Propellerlärm der Spitfire. Der Jäger kippte über das Steuerbordleitwerk ab. Offenbar wollte der Pilot noch einen zweiten Angriff fliegen.
    »Jetzt kommt endlich!«, brüllte Bruno erneut und zerrte Nico am Ärmel.
    Endlich fiel die Starre von ihm ab. »Schnell!«, sagte er zu Laura, und sie begannen zu laufen.
    Es war alles andere als ein geordneter Rückzug. In losen Gruppen rannten die Partisanen in verschiedene Richtungen davon.
    Bruno hielt direkt auf die Grotte di Nerone zu.
    »Was hast du vor?«, keuchte Nico.
    »Wir fliehen in die Höhlen?«
    »Bist du verrückt? Da stecken wir doch in der Falle.«
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    »Ja, das sollen sie glauben. Vertrau mir.«
    »Ich? Dir vertrauen?«
    »Nur noch dieses eine Mal, Nico.«
    »Vergiss es. Laura und ich werden in die Stadt fliehen.«
    »Da finden sie euch.«
    »Wir werden sehen. Viel Glück, partigiano. Komm, Laura!«
    Nico rannte, ohne weiter auf Brunos Fluchen zu achten, mit ihr um die Ruinen herum, auf die Häuser zu. Inzwischen hatte das Kampfflugzeug eine Schleife gezogen und perforierte den Strand mit einer zweiten Doppellinie.
    Das Paar rannte durch die leeren Straßen von Anzio. Auch
    hier hatten die Bombardements der letzten Wochen ihre Spuren hinterlassen.
    »Sollten wir uns nicht verstecken?«, fragte Laura atemlos.
    Nico spürte die Erschöpfung seines immer noch geschwäch-
    ten Körpers. Auch er war aus der Puste, als er keuchte: »Zu dicht am Strand … Sie werden uns suchen … Alles durchkämmen …
    Komm! Weiter!« Er zog an Lauras Hand, aber sie hielt ihn zu-rück.
    »Warte mal! Hörst du das?«
    Er lauschte. »Motorengeräusche. Könnte Verstärkung sein, die zum Strand ausrückt.«
    »Oder sie suchen uns schon. Wir müssen ihnen ausweichen.«
    »Da lang!«, stieß Nico hervor und deutete auf eine Neben-
    straße.
    Wieder liefen sie durch die ausgestorbene Stadt, bis ihnen kaum noch Kraft zum Stehen blieb.
    »Ich hab Seitenstiche«, jammerte Laura.
    Nico deutete auf ein prachtvolles Jugendstilgebäude mit zwei Kuppeltürmen und einem großen, von Säulen getragenen Balkon über der Eingangstreppe. »Lass uns in das Haus da gehen und uns etwas ausruhen.«
    Das Schloss am Portal war jung und flexibel, es öffnete den beiden Flüchtigen geradezu überschwänglich die Pforten. Kurz darauf saßen Nico und Laura aneinander gelehnt auf dem Boden 446
    eines großen Saals im ersten Stock. Durch das Sprossenfenster über ihnen konnte man die nähere Umgebung im Auge behalten.
    »Hast du überhaupt eine Ahnung, in was für einem Sünden-
    tempel wir uns hier gerade ausruhen?«, fragte Laura. Ihr Rücken lehnte an Nicos Brust.
    Er legte seine Wange auf ihr Haar. Wollte Laura die schrecklichen Bilder der vergangenen Minuten aus ihrem Kopf verbannen, dass sie ihn danach fragte? »Keine Ahnung«,

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