Der Herr der Unruhe
Gelegenheit warten.
Nico spürte an seinem Oberschenkel die Wärme von Lauras
Bein. Sie presste es regelrecht gegen das seine. Wollte sie ihm mit dem Gefühl ihrer Nähe Mut machen? Oder sehnte sie sich nach Geborgenheit so wie vorhin, als sie ihren bebenden Körper an ihn geschmiegt hatte? Die Erinnerung daran nährte Nicos Verzweiflung. Sein Vater, Feliciano Carlotti und dessen Vater, Salomia Ticiani, Johan und Lea – wie viele mussten seinetwegen leiden oder sogar sterben! Fürwahr durfte er sich den Herrn der Unruhe nennen, hatte er doch schon ein Übermaß an Unrast und schmerzliche Erregtheit über unschuldige Menschen gebracht.
Und nun auch noch Laura …!
Ein Schlag erschütterte den Lastwagen. Er musste durch ein Loch gefahren sein. Auf der Ladefläche kämpfte jeder um Halt.
Laura kippte über Nicos Oberschenkel weg, aber er konnte sie nicht halten, weil ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt 437
waren. Zudem trugen sie Ketten an den Füßen. Plötzlich raunte sie ihm etwas zu.
»Sie bringen uns nach Anzio. Wieso?«
»Vielleicht haben Sie ja doch noch ein wenig Respekt vor deinem Vater. Sie wollen …«
»Klappe! Beide! Sonst knallt’s!«, brüllte einer der Soldaten.
Laura blickte in die Mündung seiner Maschinenpistole, während sie sich wieder aufrichtete.
»Ruhig Blut!«, ermahnte Nico den Mann und redete der Waffe unhörbar eine Verstopfung ein.
Der Soldat setzte sich wieder.
Endlich erreichten sie den Hafen von Anzio. Das Aussteigen gestaltete sich für die zwei Gefangenen aufgrund der Fußfesseln schwierig. Laura stürzte und wurde von einem der Wachleute grob auf die Beine gezerrt. Die Soldaten trieben sie auf eine gemauerte Lagerhalle zu. Davor stand eine Reihe weiterer Posten. Auch an den Seiten des Backsteingebäudes entdeckte Nico Bewaffnete. Wozu dieser Aufwand, fragte er sich. Hielt man einen jungen Mann und eine Frau, die fast noch ein Mädchen war, für so gefährlich?
Feldwebel Hurz bellte einen Befehl, das weite Tor wurde ge-
öffnet, die Gefangenen ins Dunkel dahinter gestoßen. Die Tür schepperte hinter ihnen ins Schloss. Eine Kette rasselte.
Laura drückte sich eng an Nico heran und flüsterte: »Was
haben die mit uns vor?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Der Körper der jungen Frau zitterte. Ihre Stimme war nur ein Hauch. »Sie wollen uns doch nicht wirklich auf die Reise ohne Wiederkehr schicken? Mein Vater würde …«
»Dein Vater besitzt keine Macht mehr. Er kann uns nicht mehr helfen.« Nico stieß ein irres Lachen aus. »Ich selbst habe ihm die Möglichkeit genommen, dich zu retten. Wenn das nicht die berühmte Ironie des Schicksals ist! Bruno hatte schon Recht, als er uns beiden keine Zukunft gab.«
»Ich wünschte, ich hätte mich geirrt«, sagte unvermittelt eine Stimme aus der Dunkelheit.
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Nico erstarrte. Das konnte unmöglich wahr sein! »Bruno?« Er hörte, wie sich aus dem Hintergrund der Halle Schritte näherten.
Dann klang die Stimme ganz nah.
»Ich bin hier, amico mio .«
»Du …« Nico senkte den Kopf und rannte wie ein wüten-
der Stier in die Richtung des Sprechers. Er spürte einen dump-fen Schlag, als sein Schädel Brunos Brust traf. Beide gingen zu Boden.
Nun lässt es sich nicht trefflich ringen, wenn man gefesselt ist. Nico stieß mit den Knien, mit dem Kopf, biss sogar einige Male – meistens ins Leere – und versuchte seinen Kontrahenten durch wütendes Zappeln in den Ziegelboden einzuarbeiten.
Bruno leistete erstaunlich wenig Gegenwehr. Schon nach kurzer Zeit erlahmte die Kampfkraft des Angreifers. Nico begann zu weinen. Seine Stirn sank auf Brunos Brust.
»Warum hast du mich verraten?«
Er hörte den keuchenden Atem des Mannes unter ihm, sogar
seinen Herzschlag, dann die Antwort. »Es tut mir Leid, amico mio .«
Nico rollte sich von dem Partisan herunter, kämpfte sich auf die Knie und schrie: »Nenne mich nie mehr deinen Freund, du Judas. So nennt ihr Christen einen wie dich doch, oder etwa nicht? Wie viele Silberlinge hat Manzini dir für mich bezahlt?«
Brunos Antwort klang kühl. »Es ging nicht um Geld, Nico. In unserer Gruppe waren sich alle einig: Mit deinen Alleingängen bist du eine zu große Gefahr für uns geworden.«
»Ach! Und Laura? Haben deine Kameraden sie auch zum Tode
verurteilt, oder ist das deine ganz persönliche kleine Rache, weil sie dich hat abblitzen lassen?«
»Was redest du da? Ich liebe Laura. Viel länger als du. Ich würde sie nie in Gefahr bringen.«
»Das hast du aber
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