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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schulter. »Ich will nicht sagen, dass ich gerne sterbe, Liebster, aber mit diesem Gedanken im Sinn wird es mir leichter fallen.«
    Als sie schließlich den Felsvorsprung erreichten, auf dem einst die Villa des Cäsaren gestanden hatte, dämmerte es bereits. Im Zwielicht des frühen Morgens erschienen die Eingänge zu den Grotten wie ein vieläugiges, lauerndes Ungeheuer. Etwas oberhalb der Ruinen gab es zwischen den Felsen ein kleines sandiges Strandstück. Dieses hatte sich der Oberst für sein Blutbad ausgesucht.
    Die Gefangenen mussten vor der Felswand Aufstellung neh-
    men. Entgegen den üblichen Klischees wurden keine Augenbinden verteilt. Feldwebel Hurz überließ es aber dem Einzelnen, ob er aufs Meer hinaus und damit dem Exekutionskommando ins
    Auge sehen oder doch lieber den verwitterten, Frieden verheißenden Stein betrachten wollte.
    Der Herr der Unruhe hatte sich vermeintlich für den Seeblick entschieden. In Wahrheit beobachtete er die zunehmend nervöser werdenden Soldaten, wog still seine Chancen ab. Es sind zu viele Waffen!, rief eine Stimme in seinem Kopf. Lauras Hand ergriff die seine; das Mädchen trotzte wie er sehenden Auges seinen Hen-kern. Rette wenigstens sie! , hallte es aus einem anderen Winkel seines Bewusstsein. Aber wie? Leise begann er zu summen.
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    Am Rand seines Blickfeldes nahm er das Herumrucken von
    Lauras Kopf wahr. Sie fragte sich bestimmt, was in ihn gefahren war. Auch einige Soldaten hatten das befremdende Verhalten des Sonderlings bemerkt. Sie stießen ihre Kameraden an. Unruhe machte sich breit. Auf dem Marsch zur Hinrichtungsstätte hatte Nico sie tuscheln gehört. Gerüchte gingen um, dass der einstige Hüter von Manzinis Lebensuhr einen ganzen Konvoi der Waffen-SS lahm gelegt und mit Handgranaten sein Spiel getrieben hatte.
    Was mochte er da mit zwei Dutzend Infanteristen anfangen?
    Die Schützen folgten murrend dem Kommando, sich in einer
    Reihe aufzustellen.
    »Machen Sie schnell, Hurz«, drängte Oberst Kaltenreutter. Er stand versetzt hinter den Exekutanten.
    Der Feldwebel gab den Befehl zum Anlegen.
    Nicos Augen schritten die Gewehrmündungen ab. Sein Sum-
    men wurde lauter. Einige Soldaten zitterten so stark, dass sie un-möglich präzise zielen konnten. Auch Hurz fiel die Anspannung seiner Leute auf.
    »Reißen Sie sich zusammen, Mann!«, schnauzte er einen
    Schützen an, dem gerade das Gewehr aus dem Anschlag gerutscht war.
    Nico wechselte einen Blick mit Bruno, der links neben ihm stand.
    »Gott sei mit dir, amico mio !«, flüsterte der Partisan.
    Wortlos wandte sich Nico wieder dem Erschießungskommando
    zu. Er heftete den Blick auf einen Soldaten, der ihm mehr als alle anderen überreizt vorkam. Unbewusst presste er Lauras Hand zusammen. Nico holte tief Luft und riss die Augen auf.
    Der Soldat verlor die Nerven und drückte ab, bevor Hurz das Feuerkommando hatte geben können. Eine Stichflamme schoss aus dem Gewehr, aber nicht aus der Mündung. Die Walle war nach hinten losgegangen. Der Mann brüllte vor Schmerzen auf.
    Sein Gesicht war vor lauter Blut nicht mehr zu erkennen. Er taumelte, strauchelte und fiel zu Boden, wo er sich, aus Leibeskräften schreiend, hin und her wälzte.
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    »Schaffen Sie ihn hier weg«, blaffte Hurz zwei Männer an, wohl wissend, wie der Anblick des Verletzten auf die Moral der übrigen Männer wirken musste.
    Der Delinquent Nuzio krümmte sich an der Felsmauer zu-
    sammen und wimmerte vor sich hin. Andere Partisanen konnten den Anblick der Exekutanten nicht länger ertragen und drehten sich um. Aber auch unter den Soldaten war die Unruhe jetzt fast greifbar. Nico sah in ihren Augen die Furcht lodern. Er schöpfte Hoffnung.
    »Anlegen!«, befahl der Feldwebel.
    Wieder gingen die Gewehre in Anschlag, die Mündungen
    wankten wie Ähren im Wind. Aus der Ferne wehte der Wind ein brummendes Geräusch herüber.
    »Feuer!«
    Niemand drückte ab.
    Oberst Kaltenreutter trat aus dem Hintergrund einen Schritt vor und brüllte: »Wollen Sie alle als Nächste an der Wand stehen?
    Feuern Sie!«
    Einundzwanzig Männer zauderten.
    Kaltenreutter zog seine Pistole aus dem Gürtelholster und stapfte mit großen, wütenden Schritten auf die Reihe der Delinquenten zu. Er hielt den Lauf an Lauras Stirn, schrie »So macht man das!« und drückte ab.
    Die Feuerwaffe verweigerte kühl den Befehl.
    »Was zum Kuckuck …!«
    Er betätigte abermals den Abzug, aber die Pistole streikte.
    Wütend stapfte er zu Hurz zurück. Das Erschießungskommando hatte

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