Der Herr der Unruhe
antwortete er sanft. »Es wird doch kein Bordell gewesen sein?«
Ihr Kopf rollte ein paar Mal hin und her. »Viel schlimmer! Für die heilige Mutter Kirche jedenfalls. Das Haus wurde von einem Signor Polli gebaut. Er wollte darin einen Kasinobetrieb aufmachen. Aber die katholische Kirche legte Einspruch ein – du weißt, wie mächtig sie in Nettunia ist.«
»Wohl nicht allein hier. Und was ist passiert?«
»Obwohl dieses Gebäude bereits fix und fertig war, wurde Signor Polli nie die Glücksspielzulassung erteilt. Es heißt, er habe kurz danach Selbstmord begangen.«
»Das ist eine traurige Geschichte.«
»Eine lustigere ist mir leider nicht eingefallen.«
Er küsste ihren Scheitel. Selbst nach der unbequemen Nacht duftete ihr Haar für ihn wie frisch gepflückter Jasmin. »Du wirst auch wieder glücklichere Zeiten erleben, mein Täubchen.«
Sie hob den Kopf und versuchte zu ihm hochzuschielen. »Wie nennst du mich?«
»Oh, ist mir wohl so rausgerutscht. Das hat der Meister meines Vaters immer zu seiner Frau gesagt.«
»Ich mag es, wenn du mich so nennst. Was ist aus den beiden geworden?«
»Davide hält sich versteckt, und Salomia wurde von den
Deutschen mit vielen anderen Juden eingefangen, in einen Ei-senbahnwaggon gepfercht und in ein Lager westlich von Krakau deportiert.«
»In Polen? Das ist ja schrecklich! Was tun die Deutschen mit diesen armen Menschen?«
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Nico schluckte. »Wer noch bei Kräften ist, muss Sklavenarbeit verrichten. Die Übrigen kommen in Gaskammern, wo sie einen qualvollen Tod sterben.«
Laura schlug die Hände vor das Gesicht. »Beim Allmächtigen!
Das habe ich nicht gewusst.«
»Na ja, selbst den Deutschen muss wohl einleuchten, dass sie mit ihren Tötungsfabriken bei ihren Mitmenschen wenig Sympa-thien ernten können.«
»In was für einer Welt leben wir nur, Nico?«
»Es gibt dunkle Zeiten, in denen das einzige Licht die Hoffnung ist, die in uns glimmt. Du darfst nicht zulassen, dass sie erlischt.«
»Sprich nicht immer von mir, als würde es dich nicht geben.
Lass uns gemeinsam von hier weggehen.«
»Damit sie dich am Ende doch noch töten? Nein, mein Täub-
chen. Du fliehst am besten nach Zucchetti, Piscina Cardillo oder Tre Cancelli. Du kannst dort zwischen den Evakuierten untertauchen, bis das alles hier vorüber ist.«
»Nicht ohne dich, Nico.«
»Sei vernünftig. Ich habe es dir so oft erklärt: Wir beide können nicht …«
»Doch. Wir können«, unterbrach sie ihn heftig. »Ich lasse mich nicht so einfach von dir fortschicken, während du nach Nettuno zurückkehrst und meinen Vater zur Strecke bringst.«
»Aus deinem Mund hört sich das an, als wäre ich ein Jäger und er das Wild. Hat er dir nicht erzählt, dass ich ihn hätte töten können?«
»Nein. Wenn das stimmen würde, was er mir ständig über dich erzählt, dann wärst du ein menschenfressendes Ungeheuer.«
»Dann belügt er seine eigene Tochter. Vor elf Tagen in den Pontinischen Sümpfen wollte er Bruno und mich mit einer
Handgranate töten. Obwohl es mir ein Leichtes gewesen wäre, deinen Vater in die Luft zu sprengen, habe ich die Bombe zur Muße ermahnt, sie aufgehoben und fortgeschleudert, damit sie keinen Schaden anrichtet. Das ist die Wahrheit, Laura. Ich will 448
der Ankläger deines Vaters sein, aber ich bin nicht sein Henker.«
Einen Moment verharrte sie mit schief gelegtem Kopf, schien seine Worte erst in ihr Bewusstsein einzuordnen, dann lehnte sie sich wieder an ihn und erwiderte aufgeräumt: »Gut. Versteh mich bitte richtig, Nico. Ich verabscheue, was Papà getan hat. Er soll sich für seine Taten verantworten. Aber wie könnte ich einen Mann lieben, an dessen Händen das Blut meines Vaters klebt?«
Er strich sanft über ihr Haar. »Das sehe ich genauso. –
Laura?«
»Ja?«
»Ich denke, wir sollten jetzt wieder aufbrechen.«
Er half ihr vom Boden auf und warf einen Blick aus dem
Fenster. Was er vor dem Kasino sah, ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Laura bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, und schaute selbst auf die Straße hinunter.
»Allmächtiger! Ich habe sie überhaupt nicht gehört. Wo kommen all die Soldaten her?«
Vor dem Gebäude stand ein Panzerspähwagen, dessen Ge-
schütz direkt auf die zwei Flüchtlinge gerichtet war. Vielleicht hatten die Soldaten das gummibereifte Fahrzeug bei ausgeschalte-tem Motor in Stellung gebracht. Hinter allen möglichen Verschanzungen ragten Stahlhelme und Gewehrläufe hervor.
»Kopf runter!«, warnte Nico.
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