Der Herr der Unruhe
Beide gingen blitzschnell in die Hocke, aber man hatte sie bereits gesehen.
Durch die Fenster drang verzerrt eine Stimme zu ihnen herauf.
Sie wurde von einem Lautsprecher verstärkt. »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, dann geschieht Ihnen nichts.«
»Das ist dieser Kaltenreutter«, raunte Laura.
»Vielleicht hätten wir doch auf Bruno hören sollen«, brummte Nico.
»Dafür ist es jetzt zu spät. Was sollen wir tun?«
»Na was schon? Uns ergeben.«
»Um wieder zum Exekutionsplatz geführt zu werden? Lieber
kämpfe ich.«
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Nico umfasste Lauras Hände mit den seinen. »Womit denn,
mein Täubchen? Willst du sie mit deinem Lächeln betören?«
Unvermittelt tönte eine andere Stimme aus dem Lautsprecher.
»Laura! Ich bin es, dein Vater. Kommt bitte beide heraus. Der Oberst hat mir sein Wort gegeben, dass nicht geschossen wird.«
Papà!, formten Lauras Lippen, ohne einen einzigen Laut pas-sieren zu lassen.
»Wie hat er dich gefunden?«, wunderte sich Nico.
»Jemand muss Bruno gesehen haben, als er gestern Abend
zu mir kam. Vielleicht wurden wir sogar belauscht. Und dann komme ich nachts nicht nach Hause. Ich traue meinem Vater zu, dass er beim Reichsführer SS selbst interveniert hat, um seine vermisste Tochter wiederzufinden.«
»Ich zähle bis zehn, dann nehmen wir das Gebäude unter
Feuer. Eins«, hallte wieder Kaltenreutters Stimme herein.
Gleich darauf musste Manzini sich das Mikrofon zurücker-
kämpft haben, denn er flehte: »Bitte, Laura, gebt auf! Sogar dein Uhrmacher kann gegen all die Waffen hier nichts ausrichten. Sie haben Dynamit.«
»Lass uns gehen«, sagte Nico.
Endlich fügte sich Laura in das Unabwendbare. Arm in Arm
schritten sie die Treppe ins Foyer hinab. Gemeinsam öffneten sie das Portal. Hinter dem schmiedeeisernen Gitter auf der Straße waren Dutzende von Waffen auf sie gerichtet. Vier Soldaten näherten sich ihnen mit vorgehalten Maschinenpistolen.
Das Paar wurde sofort getrennt. Zwei Männer schubsten Laura zu dem Panzerspähwagen, hinter dem der Oberst und Manzini Deckung gesucht hatten. Die beiden anderen Soldaten führten Nico die Straße hinab zu einem bereitstehenden Mannschaftstransporter.
Laura bäumte sich gegen ihre Bewacher auf und schrie immer wieder Nicos Namen. Er drehte sich nicht um. Wenigstens sie war gerettet. Was mit ihm geschah, war ihm in diesem Moment völlig egal.
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Grob wurde Nico durch einen von Staub und Trümmern bedeckten Gang gestoßen. Vor einer Tür hielt man ihn fest. Ein Soldat sperrte das Schloss auf, der andere stieß ihn in den großen Raum.
Stolpernd kam er zum Stehen und drehte sich zu Feldwebel Hurz um.
»Was haben Sie mit mir vor?«
Der Offizier trug einen Verband um den Arm. »Sie meinen,
weil der Oberst nicht ein zweites Mal versucht hat, Sie zu erschießen? Die Sonderbehandlung haben Sie Ihrem Freund zu
verdanken?«
»Und wer soll das sein?«
»Der Gouverneur.«
»Manzini? Er ist nicht mein Freund. Außerdem wollten Sie
doch gerade noch seine Tochter umbringen.«
»Don Massimiliano, wie Sie ihn nennen, ist ein Stehaufmänn-chen. Er hatte noch ein Trumpf in der Hand, einen Buben in schwarzer Uniform.«
»Dann soll dieser … ›Bube‹ mich ausquetschen?« In Nicos
Erwiderung schwang zum ersten Mal offene Furcht anstatt Trotz.
Das schien Hurz zu gefallen. Er grinste süffisant. »Ich mag die SS nicht besonders, aber ihre Verhörtechniken sind legendär.
Warten Sie nur ab.« Er schlug die Tür ins Schloss. Es wurde zu-gesperrt. Dumpf hörte man die Anweisung an die Wachen, jeden Fluchtversuch mit sofortiger Erschießung zu ahnden. Jemand entfernte sich.
Nico starrte benommen die rissige, vergilbte Tür an.
Eine Äußerung von Vittorio Abbado über das römische Ge-
fängnis Regina Coeli kam ihm in den Sinn. Der ehemalige Assistente del Procuratore – die rechte Hand des Staatsanwaltes – hatte davon erzählt, dass die Besatzer bisweilen den Drang verspürten, jemanden zu quälen. Offenbar beabsichtigte die SS im Garnisonsgebäude von Nettuno eine Außenstelle ihrer Folterkammer einzurichten.
Das war – einmal mehr – die größte Ironie. Nico steckte in einem Gebäude fest, das an derselben Piazza stand wie Manzinis 451
Palast. Vielleicht weinte Laura um ihren Liebsten nur wenige Meter von hier, nicht ahnend, wie nah er ihr war.
Nico sah sich in seinem Gefängnis um. Offensichtlich han-
delte es sich um einen ehemaligen Klassenraum der italienischen Artillerieschule, die bis zum 9. September
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