Der Herr der Unruhe
letzten Jahres im Garnisonsgebäude untergebracht war. Es standen noch die Tische und Stühle der Kadetten herum. An der Stirnwand hing eine schwarze Tafel. Der Raum lag in jenem Obergeschoss des Militärbaus, der vor vier Monaten von drei Treffern aus einem panzerbrechenden Geschütz der Wehrmacht durchlöchert worden war. Anscheinend verspürten die inzwischen hier eingezogenen Besatzer keine Lust, in dem zerstörten Gebäudeteil aufzuräumen, um sich darin aus-zubreiten. Für einen Gefangenen hingegen waren die möglicherweise vom Einsturz bedrohten Mauern wohl gerade gut …
Mitten in diesem Gedanken ruckte Nico herum. Er versuchte sich seine momentane Position vorzustellen. Wo waren die Granaten eingeschlagen? Er hatte draußen doch die Zerstörungen gesehen. Seine Augen wandten sich der Wand gegenüber der
Schiefertafel zu. Ja, dahinter musste alles in Schutt und Trümmern liegen. Er ging zum vergitterten Fenster und schätzte die Entfernung bis zur Straße. Ihm wurde mulmig. Die Stockwerke waren hoch!
Leise schlich er zur Tür und lauschte. Die beiden Wachen
dahinter sprachen miteinander. Seine Hand legte sich auf das Schloss. Tu mir einen Gefallen und lass dich wenigstens heute nicht mehr von diesem kantigen Schlüssel herumkommandieren! Nico fühlte, wie sich in dem schlichten Mechanismus etwas verhakte.
Nun durchquerte er den Raum, um die besagte Mauer einer
genaueren Begutachtung zu unterziehen. Mit ausgestreckten Armen ließ er die Handflächen über die weiß verputzte Wand streichen. Ein Haus war zwar keine Maschine, aber gehörte es nicht ebenso zu den leblosen Dingen? Nico redete sich Mut ein.
Er musste es versuchen. Auch Türen waren ihm hold gewesen, nur weil in ihnen ein kleines Schloss wohnte …
Nicos Rechte verharrte über einem Riss im Verputz. Er schloss 452
die Augen. Richtig! Da lag ein Eisenanker im Mauerwerk. Die Erinnerung an die Granateinschläge war noch deutlich zu spüren.
Nico legte beide Handflächen an die Wand.
»›Seine Füße waren teils aus Eisen und teils aus geformtem Ton‹«, wiederholte er murmelnd eine Passage aus dem Buch des Propheten Daniel. Schon immer hatte ihn die Beschreibung des vom babylonischen König Nebukadnezar im Traum gesehenen
Standbildes fasziniert. Nico begann vorsichtig Druck auf die Mauer auszuüben. »›Du schautest weiter, bis ein Stein heraus-gehauen wurde, nicht mit Händen.‹« Seine Rezitation wurde zu einem leisen Singsang. »›Und er schlug das Bild an seine Füße aus Eisen und geformtem Ton und zermalmte sie.‹«
Die in der Mauer eingeschlossene Spannung befreite sich
jäh unter seinen Fingern. Ein großes Stück stürzte polternd ein.
Dahinter kam ein zerstörtes Zimmer zum Vorschein und ein
klaffendes Loch in der Außenwand, eine unregelmäßig gezackte Einschlagstelle, durch die er ein Stück Himmel sah.
Nico hörte, wie sich jemand an der Tür hinter ihm zu schaffen machte. Rasch stieg er durch die Bresche in den Nebenraum. Mit wenigen Schritten war er bei der Öffnung, die ins Freie hinaus-führte; ihr Durchmesser betrug ungefähr einen halben Meter. Er spähte zur Straße hinab. Direkt unter ihm – er konnte sein Glück kaum fassen – stand ein Mannschaftswagen. Über der Ladefläche war eine Plane gespannt. Zwölf oder fünfzehn Schritte entfernt erzählten sich zwei bewaffnete Posten vermutlich Witze; der di-ckere von beiden bog sich gerade vor Lachen. Ihr Lärmen musste sogar das Rumpeln über ihren Köpfen übertönt haben. Nico begann leise zu summen.
Nebenan krachten Gewehrkolben gegen die Tür, während er
durch das Loch hinauskletterte. An der glatten Außenmauer fanden seine Füße nirgends Halt. Die beiden Soldaten auf der Straße hatten ihn noch nicht bemerkt. Sich an dem rauen Rand des Einschussloches festklammernd, stemmte er sich einen Moment mit den Füßen gegen die Fassade, um sich gleich darauf mit dem rechten Bein abzustoßen.
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Um ein Haar hätte er den Lastwagen verfehlt und wäre hart auf dem Boden aufgeschlagen. So aber prallte er gegen die durch-hängende Plane und rutschte – nicht ganz freiwillig – außen am Fahrzeug hinab. Unbeschadet erreichte er den Boden, wo er kurz, aber heftig mit dem Pflaster der Piazza Umberto I. Bekanntschaft machte. Als er sich wieder hochrappelte, sah er den Dünneren der beiden Wachleute mit dem Finger auf ihn zeigen. Der andere riss geistesgegenwärtig seine Maschinenpistole hoch und wollte das Feuer eröffnen. Das einzige Geräusch, das die Waffe
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