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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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überkommen musste, wenn er sein Leben in die Hand eines
    Andersgläubigen legen sollte? War es nicht besser, bei Meister Davide zu bleiben?
    »Was ist?«, fragte Lorenzo Di Marco.
    »Wer sagt mir, dass ich Ihnen trauen kann?«
    Davide sog hörbar die Luft ein.
    »Ich. Ein Mann Gottes«, erwiderte der Mönch ruhig.
    »Sie sind Christ, und ich bin ein Jude. Wir haben doch euren Heiland ans Kreuz genagelt.«
    Der Benediktiner tauchte seine Hand in den Brunnen, hob sie wieder heraus und betrachtete scheinbar gedankenversunken das davon abtropfende Wasser. Dann sagte er leise, ohne den Jungen anzusehen: »Du klingst verbittert. Offen gestanden, kann ich dich sogar verstehen. Bitte erlaube mir eine Frage, Nico. Hast du dir je darüber Gedanken gemacht, warum Jesus auf Bildern und an Kruzifixen immer ein Tuch um die Lenden trägt?«
    »Weiß ich doch nicht«, brummte der Junge. Er vermutete eine Fangtrage. Verstohlen blickte er zu den Figuren, die auf künstlichen Felsen im Brunnen turnten. Sie waren ausnahmslos nackt, aber an den vor dreihundert Jahren wohl als peinlich empfundenen Stellen trotzdem immer irgendwie bedeckt.
    »Der Grund ist nicht etwa Schamhaftigkeit und schon gar
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    nicht das Bemühen um historische Genauigkeit«, fuhr Lorenzo Di Marco fort. »Die Römer gingen mit Todgeweihten, die keine Bürger des Imperiums waren, nicht sonderlich zimperlich um.
    Wahrscheinlich war Jesus nackt, als man ihn ans Holz nagelte.«
    Endlich hatte Lorenzo Di Marco das Interesse des Jungen
    geweckt. »Aber aus welchem Grund haben die Künstler eurem Heiland dann das Lendentuch umgeschlungen?«
    »Weil er ein Jude war.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Lukas, Kapitel 2, Vers 21: ›Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden musste, gab man ihm den Namen Jesus.‹ Trüge der Herr nicht das Lendentuch, könnte man sein an der Vorhaut beschnittenes Geschlecht sehen, und die Christenheit müsste eingestehen, dass sie zu einem Juden betet. Für meinen Geschmack hat die Kirche dem Volk Christi genug Unrecht angetan. Es ist allmählich an der Zeit, um Vergebung zu bitten und einiges wieder gutzumachen. Sofern ich dazu beitragen kann, möchte ich das gerne tun.«
    Diese Erklärung – ausgerechnet aus dem Mund eines katholischen Ordensmannes – löste bei Nico einen Dammbruch aus. Sein hinter einer Mauer aus Furcht und Vorurteilen aufgestautes Misstrauen zerfloss jäh ins weite Tal der Hilflosigkeit. Allein konnte er nicht gegen Manzini bestehen. Er musste sich jemandem anvertrauen. Warum eigentlich nicht diesem geduldigen, freundlichen jungen Mönch. Hatte sich der Benediktiner ihm nicht förmlich ausgeliefert? Er teilte seine geradezu revolutionären Gedanken mit einem Knaben. Welchen Vertrauensbeweis brauchte es denn noch?
    Nico spürte Davides Hand auf seiner Schulter lasten und atmete tief durch. »Gehen Sie voraus, Signor Di Marco. Ich werde Ihnen folgen.«
    Der Mönch trocknete seine nasse Hand am weiten Ärmel der
    Kutte und richtete sich auf.
    »Sag Lorenzo zu mir«, klang seine leise Stimme herüber, als er sich abwandte. »Von nun an sind wir Brüder.«
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    Keine Umarmung. Nur die auf der Schulter liegende Hand hatte Davide Ticianis Gefühle ausgedrückt – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein paar schnell gemurmelte Segensworte, dann war der schmächtige Goldschmied davongegangen, im Geräusche des
    Vierströmebrunnens genauso leise wie ein kleiner Fisch. Unauffälligkeit konnte lebenswichtig sein, denn wer vermochte schon zu sagen, ob sein Haus nicht beobachtet und sie nicht bis zur Piazza Navona verfolgt worden waren? Don Massimiliano musste über die Freundschaft von Emanuele und Nico dei Rossi zum Ehepaar Ticiani genau Bescheid gewusst haben. Wie sonst hatte der Mörder so schnell zuschlagen können?
    Der Abschied von Meister Davide lag Nico schwer im Magen.
    Seit mindestens einer Viertelstunde folgte er nun schon im Abstand von ungefähr fünfzig Metern dem Mönch. Lorenzo Di
    Marco durchquerte ohne erkennbare Eile die Gassen und Sträß-
    chen des Viertels Ponte Parione westlich der Piazza Navona, aber sein Schutzbefohlener musste sich trotzdem anstrengen, die im Takt raumgreifender Schritte schwingende dunkle Kutte nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal sah er nur den kohlraben-schwarzen Haarschopf des Benediktiners aus einem wogenden Meer anderer Köpfe auftauchen und wieder darin verschwinden: ein Sturmvogel unter vielen. Quo vadis?, grübelte Nico. Wohin führt dein Weg, Lorenzo?
    Durch die

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