Der Herr der Unruhe
Via Panico ging es zum Tiber hinauf, dann über die Ponte Sant’Angelo zur Engelsburg hinüber. Allmählich dräute dem Jungen, welches Ziel der Mönch ansteuerte, aber wahrhaben wollte er es noch lange nicht. Lorenzo Di Marco wählte keine der beiden Straßen, die in gerader Linie auf den Petersplatz zuführten, sondern einen sich windenden Weg, die Via Corridori Borgo.
Nico fragte sich, ob sein neuer Beschützer diese Route wegen ihrer geringeren Übersichtlichkeit oder aus alter Gewohnheit benutzte. Hier hatte das Fliehen Tradition. Zur Rechten ragte nämlich der Passetto auf, auch Corridoio genannt, der, wie Nico wusste, einst zur Stadtmauer gehört hatte, später jedoch zu einem zinnenbewehrten Fluchtweg umgestaltet worden war, welcher 55
bedrängten Päpsten das Entkommen in die Engelsburg sichern sollte. Aber wieso, fragte er sich, sind wir dann genau in umgekehrter Richtung unterwegs?
Er wollte schon erleichtert aufatmen, als Lorenzo nicht die links liegende Kolonnade zum Petersplatz durchstieß, sondern unvermittelt nach rechts abbog, den Passetto unterquerte und die Via di Porta Angelica betrat. Offenbar lag das Versteck doch woanders, nicht ausgerechnet hier, von wo aus seinem Volk die Diaspora zur Hölle gemacht worden war. Dann jedoch steuerte der Mönch zielstrebig auf eines der drei Tore zu, die zum kleinsten Staat der Welt führten: dem Vatikan.
Vor der Porta di Sant’Anna stand ein Mann, der aussah, als habe er sein Arm- und Beinkleid aus einer Fahne geschneidert.
Schon früher hatte Nico die Schweizergardisten aus der Ferne bestaunt und sie für ihren Mut bewundert. Er jedenfalls würde sich niemals in einer längs gestreiften gelb-rot-blauen Uniform samt gefiedertem Helm und Hellebarde vor einer Synagoge aufbauen.
Sein Argwohn fand neue Nahrung, als der Benediktiner ein paar Worte mit dem Wachmann wechselte und dann die Pforte durch-schritt. Schnell war er dahinter verschwunden. Anscheinend kannte man hier den Ordensmann.
Nicos Herz begann heftig zu schlagen, zugleich verlangsamten sich seine Schritte. War das eine Falle? Oder hatte ihn der so freundlich anmutende Mönch nur foppen wollen? War ein netter Spaziergang, Jungchen, doch jetzt muss ich nach Hause, in die Vatikanstadt, und du marschierst am besten ins Judenviertel zurück.
Auch wenn du Zweifel haben magst, bleib nicht stehen. Die Worte des Ordensmannes hallten durch Nicos Geist, während er immer langsamer wurde. Der Schweizergardist würdigte ihn keines Blickes. Gehe einfach weiter. Lorenzo hatte offenbar den Gefühls-sturm vorausgeahnt, der jetzt seinen Schützling durchtobte. Für die Città del Vaticano galt Visumzwang, so viel wusste Nico. Und Hellebarden konnten hässliche Verletzungen verursachen, auch das war ihm bekannt. Seine Beine versagten ihm unmittelbar vor dem Gardisten den Gehorsam.
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Der Mann stand vor seinem grauen Häuschen, die Rechte um
den Schaft der Paradewaffe geschlossen, den angewinkelten linken Arm auf den Rücken gelegt, und blickte stur geradeaus. Der Junge war Luft für ihn.
Bin ich das wirklich?, fragte sich Nico und wagte einen kleinen Schritt auf das Tor zu.
Der Posten bewegte sich nicht.
»Gehe einfach weiter«, flüsterte Nico die Worte des Benediktiners, als verfüge er damit über eine spezielle Formel zur Verstei-nerung von längs gestreiften Hellebardieren. Er blickte die Straße hinab. In Richtung Petersplatz liefen zwei Nonnen; ansonsten war sie leer. Beherzt trat er durch das Tor.
Der Spruch schien gewirkt zu haben. Jedenfalls war Nico unbehelligt geblieben. Hinter dem nächsten Gebäude wartete schon Lorenzo auf ihn.
»Du bist mutiger, als ich geglaubt habe.«
Immer noch raste das Herz des Jungen. »Ich habe nur getan, was Sie …«
»Du«, unterbrach ihn der Mönch. »Sag du zu mir. Schon vergessen?«
Nico holte tief Luft und nickte. »Brüder. Abgesehen von Bruno, dem Baron und seinem Kammerdiener hat mich noch kein Christ so behandelt wie … du, Lorenzo.«
»Umso dringender, dass wir daran etwas ändern. Darf ich jetzt die Notizen unseres gemeinsamen Freundes sehen?«
Der Junge krauste die Stirn.
»Davides Schreiben, das er dir an der Fontana dei Fiumi zu-gesteckt hat.«
»Ach so! Hätte ich beinahe vergessen.« Nico zog den Um-
schlag aus seiner Jacke und gab ihn dem Mönch.
»Komm!«, sagte Lorenzo und setzte sich wieder in Bewe-
gung.
Er führte seinen Begleiter durch den Atrio dei Quattro Cancelli in den Südtrakt der Vatikanischen Museen und über einige
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