Der Herr der Unruhe
dessen Heck Flammen schlugen. Das allein hätte Nicos Sturmlauf zu Laura vermutlich kaum bremsen können –
das Feuer war nicht besonders groß –, aber aus der Stiftskirche drangen Stimmen.
Was, wenn sich Laura darin befand? Es wäre immerhin mög-
lich, dass ihr Vater sie zur Einkehr oder zum Schutz dorthin geschickt hatte. Aber selbst wenn sie nicht in dem Gebäude war, musste er den Eingeschlossenen helfen. Bei einer Ausbreitung des Feuers würde sich der Rauch in jeden Winkel ausbreiten. Ihnen 464
drohte der Erstickungstod, selbst unten in der Krypta – nur wenige kannten, wie Donatello gesagt hatte, den dort verborgenen Zugang in die Höhlen.
Warum waren die Übriggebliebenen der Stadt überhaupt in
die Kirche geflohen? Glaubten sie, die Madonna delle Grazie, die oberste Schutzheilige der Stadt, würde Bomben und Granaten von ihnen fern halten? Soweit er gehört hatte, war das verehrte Bildnis selbst schutzbedürftig – man hatte es im letzten Monat nach Rom gebracht, um es vor Zerstörung und Diebstahl zu bewahren. Oder hatten deutsche Soldaten die Einheimischen aus Furcht vor Übergriffen in das Gotteshaus gesperrt und dann den Panzer davor postiert? Er wusste es nicht. Unleugbar hatte jedenfalls eine panzerbrechende Waffe das Kettenfahrzeug in Brand gesteckt, und nun drohte es samt Treibstoff und Munition zu explodieren.
Nicos Blick hetzte zu verschiedenen Punkten des Gebäudes.
Das Portal wurde vom Heck des Panzers blockiert, dessen vordere Hälfte über den Stufen hing – es sah aus, als würde er schweben.
Die Nebenausgänge waren zugenagelt. Ebenso die Fenster, die ohnehin viel zu hoch waren, um sie als Fluchtweg zu benutzen.
Die Gedanken rasten so schnell durch seinen Kopf, dass er sie kaum fassen konnte. Er fühlte sich, als jage er mit einer Spitfire im Tiefflug durch die Stadt und versuchte die Straßennamen zu lesen. Immer wieder flackerte Lauras Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Was konnte er tun? Die Amerikaner rufen? Vermutlich würden sie ihn erschießen. Die Bretterverschanzungen von den Hinterausgängen reißen? Wie denn? Etwa mit bloßen Händen? Und für ein Kennenlernen mit Hunderten von Nägeln und Schrauben fehlte ihm die Zeit. Blieb eigentlich nur der brennende Panzer. Er musste weg. Aber auch dazu fehlte ihm die Kraft. Es sei denn …
Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Via Colonna zurück. Die ausgedehnte Piazza Umberto I. zu überqueren, wagte er nicht. Zu groß war die Gefahr, dass sich die Deutschen im Garnisonshaus zur letzten großen Verteidigungsschlacht berufen fühlten und auf alles schossen, was sich bewegte. Deshalb über-465
querte er ein Stück weiter südlich die Via Durand de la Penne, die immer noch breit genug war, um einem den Angstschweiß aus den Poren zu treiben. Aber er schaffte es. Außer Atem, aber unverletzt erreichte er den gegenüber liegenden neueren Stadtteil und wenig später Margerita Riccis Bäckerei. Albino wartete geduldig im Hof. Der schwarze Lack hatte nicht den kleinsten Kratzer abbekommen.
In einer Ecke des Hofes entdeckte Nico ein zusammengerolltes Stahltau, das für seine Zwecke ausreichen müsste. Er schlang es sich wie eine Schärpe quer über die Brust und stieg auf den Sattel. »Ich muss dich jetzt um einen großen Gefallen bitten, mein Alter«, sagte er liebevoll und streichelte den glänzenden Tank.
Das Motorrad sprang willig an. Sekunden später raste er auf die Straße hinaus, zurück in die Altstadt.
Auf dem Weg pfiffen ihm mehr als einmal Kugeln um den
Kopf, aber trotz allem gelangte er wohlbehalten zur Piazza Battisti zurück. Die aus dem Heck des Kettenfahrzeuges schlagenden Flammen waren auf das hölzerne Portal der Kirche übergesprun-gen. Vielleicht hatte die Panzerfaust den Tank nicht voll getroffen, sonst wäre es vermutlich längst explodiert. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Die verzweifelten Stimmen aus der Kirche fegten die Frage aus Nicos Kopf.
Unter den ersten vier Stufen der zum Portal führenden Treppe gab es einen Absatz. Dorthin stellte der Walzenbändiger seinen eisernen Gefährten. Hastig fädelte er hierauf das Kabel durch eine Öse am Bug des Panzers, an die er kaum heranlangte – die Hitze war so groß, dass er glaubte, in Flammen aufgehen zu müssen.
Das andere Ende des Kabels befestigte er am Rahmen des Motorrades.
Als er es wieder bestiegen hatte, begann er erneut auf das Gefährt einzureden, das ihn mehr als fünf Jahre lang durch dick und dünn getragen hatte; auf ihm war er
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