Der Herr der Unruhe
da?«
»Ich will nur, dass es ihr gut geht.«
»Wenn die da oben fertig sind, dann spazierst du zu ihr, nimmst sie in den Arm und küsst sie mindestens eine Stunde lang. Danach habt ihr dann zehn Bambinis und lebt glücklich bis an euer Ende.«
»Ich glaube, um so viele Kinder zu kriegen ist mehr als ein langer Kuss nötig«, gab Nico leise zu bedenken.
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, erwiderte sie ruppig. »Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Sache funktioniert.
Schließlich habe ich auch eine Tochter. Was meinst du, wie die zustande gekommen ist?«
»Bitte ersparen Sie mir die Details.«
Mit einem Mal wurde die raue Stimme der liederlichen Alten ganz sanft. Sie legte ihren Arm um Nicos Schulter und sagte:
»Lass den Kopf nicht hängen, Jungchen. Nähre deinen Glauben, und deine Zweifel werden verhungern.«
»Wie bitte?«
»Sprich ein Gebet, setze deine Hoffnung in das Gute, das am 462
Ende immer das Böse besiegen wird. Ohne Glauben wirst du
scheitern. Also lass ihn nicht verhungern, Jungchen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie ein religiöser Mensch sind, Si-anora Tortora.«
Sie tat die unvermittelt zwischen ihnen aufgekommene Nähe mit einem Achselzucken ab. »In Situationen wie dieser wird fast jeder fromm.«
Mit einem Mal glaubte Nico, ein Vorhang würde in seinem
Innern entzweigerissen, und zum ersten Mal sah er klar, was er bis dahin immer abgeleugnet hatte. Abrupt erhob er sich. »Mir scheint aber, dass Sie von etwas anderem gesprochen haben. Ich habe den Glauben an Lauras und meine Zukunft verhungern und verdursten lassen, weil mir ihre Liebe unheimlich war. Sie ist die Tochter meines Todfeindes. Sie besitzt ein Vermögen. Sie könnte in Gefahr geraten, wenn sie sich mit mir abgibt. Ich hatte so viele Bedenken …« Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Die Vettel kicherte. »Ich glaube, Doctor Mechanicae, jetzt hat’s endlich bei dir klick gemacht.«
Nichts würde ihn mehr aufhalten können. Entgegen dem aus-
drücklichen Rat der Tortora – die Stadt lag immer noch unter einer Glocke aus Explosionen und Maschinengewehrfeuer –
kehrte Nico an die Oberfläche zurück. Es war kurz nach sieben, und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt.
Sobald er die Straße betrat, geriet er auch schon in Bedrängnis.
Jemand schoss auf ihn. Mit Mühe entkam er in eine Seitengasse.
Die deutsche Gegenwehr war wohl eher konfus, aber sie verhin-derte sein direktes Durchkommen zum Palazzo Manzini. Um die versprengten Einheiten zu umgehen, musste er immer weiter nach Süden ausweichen. Endlich gelang es ihm, die Altstadt zu betreten. Auch hier huschten Gestalten durch das Zwielicht, deren Waffen ihn zu immer neuen Haken zwangen. Plötzlich stand er an der westlichen Stadtmauer und blickte aufs Meer hinaus.
Es war ein unglaublicher Anblick. Das Meer wimmelte nur
so von allen möglichen Seefahrzeugen. Große Landungsschiffe 463
lagen am Hafen wie auch an den seichten Stellen des Strandes und spuckten Männer oder ganze Lkws aus. Andere nahmen
bereits wieder leere Transporter auf. Für jeden Zweck schien es ein besonderes Vehikel zu geben. Einige legten einen Schleier aus Rauchwolken über das Meer, sodass die wahre Größe dieser In-vasionsarmee unmöglich zu erkennen war. Andere Schiffe beant-worteten die noch vereinzelt aufflackernde Gegenwehr aus den deutschen Geschützständen mit Granatfeuer. Am erstaunlichsten fand Nico aber die großen Ballone, die wie riesige silberne Fische am Himmel hingen. Hatte er, wie Signora Tortora behauptete, diesem Spektakel den Weg geebnet? Nein, das mochte er nicht glauben. Plötzlich prasselte in unmittelbarer Nähe eine Gewehrsalve in die Stadtmauer. Nico erwachte aus seiner Starre und zog sich wieder in die Gassen zurück.
Er musste zum Palazzo Manzini, zu Laura. In der Nähe hörte er das Getrappel von Stiefeln. Er duckte sich hinter einem Treppenaufgang. Das waren keine deutschen, sondern amerikanische Soldaten! Sie eilten über die Piazza Vittorio Emanuele III. zielstrebig auf die Via dei Quartiere zu. Offenbar hatte ihnen jemand genaue Pläne von dem Labyrinth aus Gassen und Plätzen verschafft.
Als der Trupp endlich außer Sicht war, setzte Nico seine waghal-sige Altstadtdurchquerung fort. Durch die Via Colonna gelangte er auf die Piazza Battisti, von wo aus er sich an die Rückfront des Manzini-Palastes heranarbeiten wollte. Dabei stieß er auf ein unerwartetes Hindernis.
Oberhalb der Freitreppe von San Giovanni stand ein deutscher Panzer, aus
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